Hürde 2,5%-Sperrklausel verfassungswidrig! • SPD, Grüne und CDU erleiden Niederlage vor dem Verfassungsgerichtshof NRW • Piraten, DIE LINKE und andere Kläger sehen sich bestätigt
Bernhard Wilms [ the_time('d.m.Y'); ?> - the_time('H:i'); ?> Uhr]
In der vergangenen NRW-Legislaturperiode hatte die rot-grüne Landesregierung im Verein mit der CDU-Fraktion für die Kommunen eine 2,5%-Sperrklausel eingeführt.
Dazu wurde das so genannte „Kommunalvertretungsstärkungsgesetz“ verabschiedet, das bei der Kommunalwahl 2020 erstmals angewandt werden sollte. Dieses Gesetz wurde heute gekippt.
Der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster hat heute (21.11.2017) entschieden, dass die 2,5 %-Sperrklausel bei Kommunalwahlen gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verstößt, soweit sie für die Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage gilt.
Demgegenüber stehe die Sperrklausel im Einklang mit der Landesverfassung, soweit die Wahlen der Bezirksvertretungen und der Verbandsversammlung des Regionalverbandes Ruhr betroffen sind.
Sachverhalt
Antragstellerinnen der Organstreitverfahren sind die Landesverbände der NPD, der Piratenpartei, der Partei DIE LINKE, der PARTEI, der ÖDP und der Tierschutzpartei sowie die Bürgerbewegung PRO NRW und die Partei Freie Bürger-Initiative/Freie Wähler.
Antragsgegner ist jeweils der Landtag, der durch das Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen und wahlrechtlicher Vorschriften (Kommunalvertretungsstärkungsgesetz) vom 14. Juni 2016 eine 2,5 %-Sperrklausel bei Kommunalwahlen eingeführt hat.
Nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs aus dem Jahr 1999 war die damals im Kommunalwahlgesetz geregelte 5 %-Sperrklausel mit der Landesverfassung nicht vereinbar, weil der Gesetzgeber ihre Erforderlichkeit nicht hinreichend begründet hatte (Urteil vom 6. Juli 1999 – VerfGH 14/98, 15/98 –).
Die nunmehr streitige 2,5 %-Sperrklausel wurde unmittelbar in die Landesverfassung (Art. 78 Abs. 1 Satz 3) eingefügt.
Der Gesetzgeber hat die Regelung in erster Linie damit begründet, Folge des Wegfalls der früheren 5 %-Sperrklausel sei eine zunehmende parteipolitische Zersplitterung der Kommunalvertretungen, die die Handlungsfähigkeit der Kommunalvertretungen beeinträchtige oder zumindest in hohem Maße gefährde.
Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs
In der mündlichen Urteilsbegründung führte die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs Dr. Ricarda Brandts unter anderem aus:
Der Verfassungsgerichtshof habe die verfassungsunmittelbare 2,5 %-Sperrklausel darauf zu überprüfen, ob sie die in Art. 69 Abs. 1 Satz 2 der Landesverfassung (LV) normierten Grenzen der Zulässigkeit von Verfassungsänderungen wahre.
Danach seien Änderungen der Verfassung, die den Grundsätzen unter anderem des demokratischen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes widersprechen, unzulässig.
Damit nehme die Landesverfassung Bezug auf die sogenannten Homogenitätsvorgaben in Art. 28 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des Grundgesetzes (GG). Zu diesen zwingenden Vorgaben für die Ausgestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern gehöre der Grundsatz der Gleichheit der Wahl.
Die Sperrklausel bewirke eine Ungleichgewichtung der Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswertes, da Stimmen für solche Parteien und Wählervereinigungen, die an der 2,5 %-Hürde scheiterten, ohne Einfluss auf die Sitzverteilung blieben.
Für die Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage sei diese Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt.
Insoweit ergäben sich aus Landesverfassung und Grundgesetz (Art. 69 Abs. 1 Satz 2 LV i. V. m. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG) strenge Anforderungen an differenzierende Regelungen.
Diese bedürften stets eines besonderen, sachlich legitimierten, „zwingenden“ Grundes.
Dazu gehöre zwar auch die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung.
Berufe sich der Gesetzgeber aber zur Rechtfertigung einer Sperrklausel auf eine solche anderenfalls drohende Funktionsunfähigkeit, müsse er für die dann zu erstellende Prognose alle in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht für die Einschätzung der Erforderlichkeit einer Sperrklausel relevanten Gesichtspunkte heranziehen und abwägen.
Er dürfe sich nicht mit einer abstrakten, schematischen Beurteilung begnügen.
Die Prognose müsse vielmehr nachvollziehbar begründet und auf tatsächliche Entwicklungen gerichtet sein, deren Eintritt der Gesetzgeber ohne die in Rede stehende Wahlrechtsbestimmung konkret erwartet.
Eine durch das vermehrte Aufkommen kleiner Parteien und Wählervereinigungen bedingte bloße Erschwerung der Meinungsbildung dürfe er nicht mit einer Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit gleichsetzen.
Diese bereits früher von der Verfassungsrechtsprechung in Bezug auf einfachgesetzliche Sperrklauseln formulierten Anforderungen würden auch für eine unmittelbar in der Landesverfassung geregelte Sperrklausel gelten.
Ein spezifischer Spielraum des landesverfassungsändernden Gesetzgebers für Differenzierungen innerhalb der Wahlrechtsgleichheit bestehe nicht.
Dass die 2,5 %-Sperrklausel zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinderäte und Kreistage erforderlich ist, sei weder im Gesetzgebungsverfahren noch im Rahmen der Organstreitverfahren in der gebotenen Weise deutlich gemacht worden.
Die gesetzgeberische Prognose sei weder in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig noch sei ihre Begründung in jeder Hinsicht nachvollziehbar.
Die Gesetzesbegründung erschöpfe sich im Wesentlichen in abstrakten, schematischen Erwägungen zu möglichen negativen Folgen einer Zersplitterung der Kommunalvertretungen.
Dass es nach Wegfall der früheren 5 %-Sperrklausel durch eine gestiegene Zahl von Kleingruppen und Einzelmandatsträgern zu relevanten Funktionsstörungen von Gemeinderäten und Kreistagen oder zumindest zu Entwicklungen gekommen wäre, die Funktionsstörungen möglicherweise zur Folge haben könnten, werde zwar behauptet, nicht aber in nachvollziehbarer Weise anhand konkreter empirischer Befunde belegt.
Weniger strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterlägen differenzierende Regelungen für die Wahlen der Bezirksvertretungen und der Regionalversammlung Ruhr. Insoweit beschränkten sich Landesverfassung und Grundgesetz (Art. 69 Abs. 1 Satz 2 LV i. V. m. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) auf die Gewährleistung des auch auf Ebene des Bundes unabänderlichen Kerns des Demokratieprinzips.
Dieser werde durch die 2,5 %-Sperrklausel nicht berührt.
Aktenzeichen: VerfGH 9, 11, 15, 16, 17, 18, 21/16
Piratenpartei sieht sich bestätigt
„Klugscheißer mag niemand, aber wir wussten es halt schon immer besser!“, so Michele Marsching, ehemaliger Fraktionsvorsitzender und Vertreter der PIRATEN im Organstreitverfahren.
„Zumindest was die Sperrklausel angeht: Sie ist undemokratisch, sie schließt Bürger aus, sie ist vor allem verfassungswidrig – und jetzt ist sie abermals weg!“
Allein die nordrhein-westfälische Piratenpartei hatte seinerzeit im Landtag gegen das so genannte Kommunalvertretungsstärkungsgesetz gestimmt.
Dennis Deutschkämer, Landesvorsitzender der PIRATEN NRW, ergänzt: „Sperrklauseln sind keine Garantie für stabile Regierungen. Kleine Parteien stören den Politikbetrieb nicht, sondern bereichern ihn. Ich bin froh, dass das Gericht unserem Antrag gefolgt ist und wir so den weiteren Abbau demokratischer Grundsätze und politischer Beteiligung verhindern konnten.“
Wieder einmal habe ein Gericht bemüht werden müssen, um der Bequemlichkeitspolitik Einhalt zu gebieten.
Die Motivation unter Federführung der ehemaligen SPD-Landtagsfraktion war der Versuch, in den Stadträten und Kreistagen so genannte „Klein-Parteien“ aus diesen Gremien herauszuhalten.
Das hätte die Position der „etablierten“ Parteien dadurch gestärkt, dass deren Fraktionen größer geworden wären, weil die Stimmen, die die „Kleinen“ erhalten hätten, ohne Belang gewesen wären.
Als vorgeschoben wurde von SPD, Grünen (und „angeschlossen“ die CDU) das Argument ins Feld geführt, dass sich die Debatten in den Kommunalparlamenten – verursacht durch die „Kleinen“ über Gebühr in die Länge ziehen würden.
Dafür haben die Initiatoren der „2,5%-Klausel“ jedoch keine stichhaltigen Nachweise erbracht. Sie bezogen sich öffentlich lediglich auf 1 (zu Worten: eine) Sitzung des Duisburger Rates, die erst weit nach Mitternacht geendet hatte.
Dass so etwas nicht geschieht, liegt ausschließlich in der Hand des die Versammlung leitenden Oberbürgermeisters, der auf die Einhaltung der Geschäftsordnung zu achten hat.
Insofern ist die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes eine interessante Grundlage für die Kommunalwahl in ca. 2 Jahren.