Aspekte des Wählens • Teil XXII: Wähler wählen keine Koalitionen • Stephan Weil (SPD) führt Wähler nach Wechsel einer Grünen-Abgeordneten in die Irre • „Geschäftsmodell Fraktionswechsel“ auch im Mönchengladbacher Rat?
Bernhard Wilms [ the_time('d.m.Y'); ?> - the_time('H:i'); ?> Uhr]
[14.08.2017] Manche Politiker wiederholen ihre Fehleinschätzungen sooft, dass sie selbst daran glauben. Wie der niedersächsische SPD-Ministerpräsident Stephan Weil, der in den letzten Tagen mehrfach wörtlich einen Satz wiederholte, der immer dann von jedem x-beliebigen Politiker „heraus gekramt“ wird, wenn es um Wahlen und anschließende Koalitionen oder Kooperationen geht.
Weil wörtlich: „Wenn eine Abgeordnete des niedersächsischen Landtages … die Fraktion wechselt und damit die von den Wählerinnen und Wählern gewollte Mehrheit … verändert, … halte ich es für sehr schädlich für unsere Demokratie. …“
Aus welcher Glaskugel Weil die Erkenntnis hat, dass bei der Landtagswahl 2013 „rot-grün“ „die von den Wählerinnen und Wählern gewollte Mehrheit“ war, wird wohl sein Geheimnis bleiben.
Es war schlicht und ergreifend rechnerisch die Addition von Abgeordnetenzahlen, die zur Einstimmen-Mehrheit im niedersächsischen Landtag geführt hatte, die nun nach dem Wechsel einer Grünen-Abgeordneten in die CDU-Fraktion perdu ist.
Eine große Koalition unter SPD-Führung wäre rechnerisch ebenfalls möglich gewesen. Das war aber (partei-)politisch nicht gewollt.
Auch im Mönchengladbacher Rat mit 68 Ratsmitgliedern (+ OB) haben sich die Mehrheitsverhältnisse durch den Wechsel von Ratsmitgliedern in andere Fraktionen verändert.
Gab es nach der Kommunalwahl 2014 nur die rechnerische Alternative zwischen schwarz-grün und schwarz-rot, wäre nun rein rechnerisch auch eine schwarz-gelbe Mehrheit im Mönchengladbacher Rat möglich.
Im Oktober 2016 wechselte der „Pirat“ Reiner Gutowski von der PiPA-Gruppe zur FDP, Ulas Zabci (ehemals DIE PARTEI) von der PiPA-Gruppe zur Linksfraktion.
Der bislang fraktionslose Klaus Oberem (ehem. FWG) schloss sich der CDU-Fraktion an.
Vor dem Hintergrund, dass der Oberbürgermeister in den meisten Abstimmungsfällen im Rat ebenfalls stimmberechtigt ist, ergeben sich rechnerisch zwei als politisch realistische Mehrheiten:
Aktuelle schwarz-rote Kooperation: 30 CDU + 20 SPD + OB = 51 Stimmen
Optionale schwarz-gelbe Kooperation: 30 CDU + 4 FDP + OB = 35 Stimmen
Dass die schwarz-gelbe Option in der CDU-Fraktion ein Thema sein könnte, zeigte sich, als die SPD-Fraktion – offensichtlich zur Überraschung von Teilen ihres GroKo-Partners CDU – im Mai gemeinsam mit den Grünen einen Antrag zur Mitveranstalter-Funktion der Stadt bei der im Oktober in Mönchengladbach stattfindenden „Gay*Com“ in den Rat einbrachte.
In dieser Situation sagte Dieter Breymann (CDU): „Dann können wir ja auch künftig mit der FDP etwas machen. Wir haben mit ihr ja eine Mehrheit!“
Mit einer solchen Mehrheit konnte Breymann nur „drohen“, weil es den besagten „Zuwachs“ in FDP- und CDU-Fraktion gegeben hatte.
Ermöglicht haben dies unfreiwillig und unbeabsichtigt Wähler, die bei der Kommunalwahl 2014 vertrauensvoll der Piratenpartei und der FWG ihre Zweitstimme gaben, im Nachhinein aber ungewollt zu „Steigbügelhaltern“ dieser neuen Mehrheit degradiert wurden, denn nur durch sie erhielten die beiden „Wechsel-Ratsherren“ überhaupt die Chance, in den Rat einzuziehen.
So unterschiedlich die Fälle „Niedersachsen“ und „Mönchengladbach“ auch sein mögen, scheint sich so etwas wie ein „Geschäftsmodell Fraktionswechsel“ entwickelt zu haben.
Man „bearbeitet“ latent wechselwillige Politiker, ihre politische Richtung zu ändern um auf diese Weise zu gewünschten Mehrheiten zu kommen.
In Niedersachsen kommt es zu vorgezogenen Neuwahlen, von der sich die CDU eine neue Mehrheit unter ihrer Führung erhofft.
In Mönchengladbach verfügt die CDU über eine theoretische Mehrheit mit der FDP und hat somit bei Bedarf die Möglichkeit, die SPD-Fraktion unter Druck zu setzen, wenn sie sich einmal nicht „kooperationskonform“ verhalten möchte.
Politischer „Profiteuer“ ist in beiden Fällen ganz offensichtlich die CDU.
Wie auch schon 1994, als fünf Mönchengladbacher SPD-Ratsmitglieder, unter ihnen der damalige SPD-Fraktionsgeschäftsführer Winfried Eßer verhinderten, dass ihr Genosse Klaus Schäfer zum Oberbürgermeister gewählt wurde.
In der Folge wurde Eßer von der SPD-Fraktion fristlos gekündigt, trat mit Dieter Lenßen (später CDU), Hans-Günter Steins, Felicitas Voosen und Günter Waldhausen unter „Mitnahme“ ihrer Ratsmandate aus der SPD aus, gründete ein Jahr nach der Kommunalwahl 1994 die USD (Unabhängige Soziale Demokraten) und ging mit der CDU eine Kooperation ein.
Dass die SPD-Fraktion ihrem ehemaligen Geschäftsführer den Rauswurf mit einer Abfindung in Höhe von 225.000 DM (ca. 115.000 EURO) versüßen musste, passt ins Bild.
In der CDU/USD-Phase wurde die NVV AG gegründet, bei der Eßer seit 1995 ein sechsstelliges Jahresgehalt als Berater des Nahverkehr- und Energieversorgers Stadtwerke erhielt.
Und dies sicherlich unter tätiger Mithilfe seines Schulfreundes Alfred Bohnen (Fraktionschef der CDU).
Ein weiteres Indiz dafür, dass das „Geschäftsmodell Fraktionswechsel“ nicht selten aus persönlichen und finanziellen Motiven heraus funktioniert.
Nach derzeitiger Rechtslage waren und sind die Vorgänge in Niedersachsen und Mönchengladbach nicht zu beanstanden.
Verwerflich erscheint jedoch das Verhalten der betreffenden Akteure vor allem vor dem Hintergrund, dass keiner von diesen über ein Direktmandat, sondern über die Listen ihrer Parteien in die jeweiligen Gremien gekommen waren.
„Sauber“ wären diese Aktionen nur gewesen, wenn die Grünen-Abgeordnete in Niedersachsen ihr Mandat an die Grünen-Fraktion zurückgegeben hätte und in Mönchengladbach die beiden Ratsherren ausgeschieden wären.
In allen Fällen müssten sie sich dann nicht den Vorwurf gefallen lassen, die Wähler getäuscht zu haben, die bewusst bestimmten Parteien die Zweitstimme gegeben hatten.
Die Wähler entscheiden am Wahltag eindeutig und bewusst, welcher Partei und bei der Erststimme welcher Person innerhalb einer Partei, sie ihre Stimme geben.
Das bedeutet, dass auch eine Politikrichtung gewählt wird.
Besonders herb ist dann die Wechselentscheidung für die Wähler, wenn ihre Stimme plötzlich bei einer Partei „landet“, die sie nie und nimmer gewählt hätten.
Dass dem so ist, zeigen die Wechselergebnisse:
Von Bündnis 90/Die Grünen zur CDU, wie in Niedersachsen, das passt nicht wirklich, auch wenn es eine Grün-Schwarze Koalition in Baden-Württemberg gibt.
Noch größer sind die Unterschiede in Mönchengladbach:
Von der Piratenpartei zur FDP und der FWG (deren Gründer ERICH Oberem die Wählergemeinschaft immer als die „bessere“ CDU sah und dieser äußerst kritisch gegenüber stand) zur CDU.
Dass Erichs Sohn Klaus sich ausgerechnet der CDU-Fraktion anschloss, dürfte beim ihm kaum Verständnis hervorgerufen haben.
Nicht nur in diesen Fällen, sondern fast immer, handelte es sich um eindeutige politische Richtungswechsel und somit letztendlich nichts anderes als Betrug am Wähler.
Hätte dieser die neuen Parteien der Wechselkandidaten gewollt, hätte er diese auch gewählt.
„Sauber“ wäre , wenn in den Wahlgesetzen verankert würde, dass in Gremien gewählte Mandatsträger ihre Mandate bei der jeweiligen Partei belassen müssen.
Solche Änderungen in den Wahlgesetzen lassen sich natürlich nicht ohne CDU und SPD durchsetzen.
Was wiederum wenig wahrscheinlich ist, würde diesen doch dann ihr „Geschäftsmodell Fraktionswechsel“ genommen, das Mehrheitsmanipulationen nach Wahlen erst möglich macht.
Alles in Allem sind solche „Nachwahl-Manipulationen“ Wasser auf die Mühlen der Nichtwähler, die sich in ihrer Auffassung bestätigt sehen und argumentieren: „die machen doch sowieso was sie wollen“.
5.
Brummbär schrieb am 16.08.2017 um 16:51 Uhr:
Herr Gutowski ist (nicht nur) für mich eine große Enttäuschung. Ihm hätte ich anderes zugetraut als ausgerechnet den Wechsel zur FDP!
So kann man sich täuschen (lassen?).
Krasser geht es kaum.
Beweist aber auch, dass noch lange nicht überall drin steckt, was drauf steht. Etikettenschwindel eben.
Gerade „junge“ Parteien locken Karrieristen an wie ein Honigtopf Fliegen.
Die Aufstiegsmöglichkeiten sind besser, weil weniger Konkurrenz.
Mit Parteihopping kommt man dann vielleicht wieder ein Stückchen oder sogar großes Stück weiter nach oben.
4.
Doris Kroll-Hartge schrieb am 15.08.2017 um 13:06 Uhr:
Ja, es ist schon zum Fremdschämen und ich kann mich nur bei allen Menschen, die der Piratenpartei ihre Stimme gegeben haben, dafür entschuldigen.
Andererseits ist die Piratenpartei um einen Fremdkörper mehr erleichtert worden.
Ein derart ausgeprägter Kinderglaube an die Effizienz unserer „freien Marktwirtschaft“ ist in der Lindnerpartei besser aufgehoben.
Aus dem Wahlprogramm der Piraten:
„Die Wirtschaftspolitik der PIRATEN basiert auf einem humanistischen Menschenbild und ist bestimmt von Freiheit, Transparenz und gerechter Teilhabe. Auf diesem Fundament stehen unsere Konzepte für eine freiheitliche und soziale Wirtschaftsordnung, deren Ziel die selbstbestimmte Entfaltung und das Wohlergehen aller Menschen ist.“
https://www.piratenpartei.de/mission/wahl-und-grundsatzprogramme/wahlprogramm-btw2017/wirtschaft-und-finanzen/
Teile unseres Wahlprogramms kann man sich auch vorlesen lassen.
http://anja.hirschel.info/2017/08/13/lesung-wahlprogramm-uebersicht/
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit
3.
M. Angenendt schrieb am 15.08.2017 um 12:48 Uhr:
Es nervt wie Parteien uns immer wieder verkaufen wollen, dass der Wähler selbst eine Koalition gewählt hat!
Wie soll sowas gehen?
Darüber denken die meisten Leute nicht nach und lassen sich für blöd verkaufen und schlucken den Blödsinn (Lüge?).
Die Parteien wissen genau, was da abgeht und warum.
Da wird sogar aus einem Feind mal eben ein „Koalitionspartner“.
Das wird dann auch noch als Erfolg für den vera …… Wähler gefeiert.
Geht nur um Interessen und Machterhalt.
Wählern wird erzählt es geht um ihr Wohl und Umsetzung der versprochenen Politik.
Das das nicht sein kann, kriegen die meisten Leute nicht mal auf die Reihe, weil sie alles schlucken was ihnen erzählt wird.
Danke für den Artikel!
2.
Hauptredaktion schrieb am 14.08.2017 um 15:03 Uhr:
Danke, Herr Schultz, für die ergänzende Klarstellung.
1.
Torben Schultz schrieb am 14.08.2017 um 14:46 Uhr:
Achtung! Herr Zabci ist noch immer Mitglied von „Die PARTEI“!
Er ist nur der Fraktion der Linken beigetreten. Das ist in Bezug auf den zweiten Teil des Artikels wichtig, da darin über die Wahl der Liste und damit der politischen Richtung gesprochen wird.
Genau die politische Richtung hat Herr Zabci nicht verlassen, nur statt sie als Einzelkämpfer im Rat zu versuchen umzusetzen, versucht er es in der Gemeinschaft mit den Linken.
So wie er ja auch zuvor versuchte es als Gruppe mit Herrn Gutowski umzusetzen.
Im übrigen ist es bei Frau Kroll-Hartge genauso, auch sie ist noch Mitglied bei den Piraten, also genau so wie sie auch gewählt wurde.
Nur sie ist eben auch der Fraktion DIE LINKE beigetreten um gemeinsam mehr erreichen zu können.
Aber halt nicht der Partei DIE LINKE.