Kurzgeschichte: Der rote Tanzstein

Andrea Tillmanns [ - Uhr]

Geschichte von einem Stein, einem kleinen Jungen, seinen Großeltern und seiner Schwester. Hier können Sie die Geschichte hören, lesen oder beides zusammen:

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Produktion: Albert Sturm – Sprecherin: Karin Sturm

Kleine Brüder sind nervig. Besonders, wenn sie gerade fünf Jahre alt geworden sind. Da bin ich mit meinen neun Jahren doch deutlich erwachsener. Meine Großeltern sind dennoch der Meinung, auch mein Bruder Markus sei schon alt genug, um einen Ausflug an den Rhein bei Neuss genießen zu können. Zur Strafe muss Opa jetzt alle fünf Minuten anhalten, da Markus Autofahren nicht verträgt und zum Frühstück viel zu viel gegessen hat. Dennoch glaubt mir noch immer niemand, dass wir ihn lieber zu Hause gelassen hätten.

Wenn man alle fünf Minuten anhält, braucht man von Grevenbroich nach Neuss eine gute halbe Stunde und für den Weg zum Rhein noch mal genauso lange. Als Opa den Wagen geparkt hat, springt Markus hinaus und verkündet, er habe einen Bärenhunger, aber Mami ist sich nicht ganz sicher, ob Kekse jetzt wirklich eine gute Idee sind. Vorsichtshalber gibt sie auch mir keine, damit Markus nicht neidisch werden kann. Stattdessen gehen wir vom Parkplatz hinunter zum Rheinufer.

Dort zeigt Opa Papi, wie das funktioniert mit den Steinen, die ganz oft über die Wasseroberfläche hüpfen, bevor sie untergehen. Dann zeigt Papi Markus und mir, was man dabei alles falsch machen kann. Mami und Oma probieren es gar nicht erst. Markus findet dieses Spiel so lange ganz toll, bis er mit beiden Füßen im Rhein steht, weil er natürlich nicht gleichzeitig auf die Steine in seiner Hand und das Wasser achten kann. Aber nachdem Mami ihm die Socken ausgezogen und die Sandalen mit Zauberpuste blitzschnell trockengepustet hat, hört er sofort auf zu heulen.

Als wir weitergehen, immer am Ufer entlang, bleibt Opa plötzlich stehen und beginnt mit seinem Stock im Boden zu stochern. Markus geht es schon wieder richtig gut, deshalb pult er schnell den Stein, auf den mein Opa deutet, ganz aus dem Kies hervor und wäscht ihn im Rhein ab. Dass seine Sandalen nun schon wieder nass werden, stört ihn diesmal erstaunlicherweise nicht. Der Stein ist dunkelrot und funkelt an den Bruchkanten. Ich will auch so einen Stein, aber Opa behauptet, diese Steine seien so selten, dass man unmöglich zwei davon an einem einzigen Tag finden kann. Markus streckt mir hinter dem Rücken meiner Mutter die Zunge raus.

Auch Opa sieht davon nichts. „Dieser Stein“, sagt er, „ist nämlich ein so genannter Tanzstein, den die Nixen benutzen.“

Selbst mein kleiner Bruder sieht Opa nun ein wenig irritiert an.

„Nixen, ach was“, murmelt Oma und konzentriert sich dann wieder darauf, mit ihren hohen Absätzen nicht im Kies steckenzubleiben.

„Die Nixen“, fährt Opa fort, „lieben Feste, und wann immer sich eine Gelegenheit bietet, feiern sie eines. Am meisten aber lieben sie es zu tanzen, und sie überlegen schon lange vor jedem Fest, mit wem sie den ersten Tanz tanzen möchten. Denn dieser erste Tanz hat für die Nixen eine ganz besondere Bedeutung …“

Oma schnaubt ärgerlich, so wie Mami es manchmal tut, wenn im Fernsehen wieder irgendjemand Unfug erzählt. Markus dagegen starrt Opa so gespannt an, dass er sich mit Sicherheit gleich auf die Nase legen wird. Vorsichtshalber übe ich schon mal, ganz ernst zu schauen; Mami mag es nicht, wenn ich über meinen dummen kleinen Bruder lache.

„Lange vor dem Fest“, erzählt Opa weiter, „überlegt also jede Nixe, wem sie einen Tanzstein vor die Tür der Höhle tief unten im Wasser legen soll. Wenn sie eine andere Nixe mit diesem ersten Tanz um Verzeihung bitten möchte, wählt sie einen grünen Stein; um einer Nixe ihre Freundschaft anzubieten, nimmt sie einen weißen, und so zeigen alle Farben einen anderen Wunsch an. Der rote Stein jedoch ist etwas ganz besonderes, denn er ist ein Zeichen der wahren Liebe, und wenn die beiden dann auf dem Fest miteinander tanzen und dabei den roten Tanzstein gemeinsam festhalten, so gelten sie fortan als verheiratet.“

Jetzt platzt Oma endgültig der Kragen. „Hier gibt es keine Nixen!“, widerspricht sie. „Nixen in Neuss, davon habe ich ja noch nie gehört!“

„Aber wir haben doch gerade einen ihrer Tanzsteine gefunden“, entgegnet Opa und zwinkert ihr hinter Markus‘ Rücken zu.

Dieser Logik weiß Oma offensichtlich nichts entgegenzusetzen.

„Wenn du meinst“, seufzt sie und stolpert weiter durch den Kies.

Fast fünfzehn Jahre später, als wir unseren Eltern beim Renovieren der Wohnung helfen und dabei zufällig den roten Stein vom Rheinufer wiederfinden, sagt mein Bruder: „Mensch, damals war ich so klein, dass ich diese alberne Geschichte tatsächlich geglaubt habe.“

Nachdem ich das Zimmer verlassen habe, will er noch ein wenig weiter aufräumen.

So erstaunt es mich nicht wirklich, dass ich den Stein Monate später, als ich Markus in seiner neuen Wohnung besuche, auf dem Schreibtisch seiner Freundin liegen sehe.

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