Schulnoten für Pflegeeinrichtungen – Umsetzung der Transparenzvereinbarungen und Bewertungskriterien mangelhaft
Red. Giesenkirchen [ the_time('d.m.Y'); ?> - the_time('H:i'); ?> Uhr]
[PM Pro Pflege] Nach einer Mitteilung des Verbandes der Ersatzkrankenkassen (vdek) vom 02.09.2010 wurden bis zum 16.08.2010 die Noten von 8.500 Pflegeeinrichtungen veröffentlicht.
Geprüft wurden bisher:
- 4.810 ambulante Dienste mit der Durchschnittsnote 2,1 und
- 6.022 Heime mit der Durchschnittsnote 1,9.
Pflegequalitätssicherung und mehr Transparenz sind grundsätzlich richtig.
Daher sind regelmäßige unangemeldete Kontrollen durch die Heimaufsichten bzw. die medizinisch-pflegerischen Überprüfungen durch den MDK zu begrüßen.
Veröffentlichte Prüfergebnisse in Verbindung mit Pflegenoten können bei der Heimauswahl hilfreich sein.
Die praktizierte Umsetzung der geltenden Transparenzvereinbarungen und Bewertungskriterien jedoch ist nicht akzeptabel und mangelhaft!
Diese Vorschriften sind im Übrigen allein zwischen Vertretern von GKV-Spitzenverband Bund und den Verbänden der Betreiber von Pflegeeinrichtungen ausgekungelt worden. Die Betroffenenseite, die pflegebedürftige Menschen bzw. deren Angehörigen, sind bei der Erarbeitung der Bewertungskriterien nicht beteiligt worden.
Es gab und gibt Streit vor den Sozialgerichten.
Zuletzt erklärte das Sozialgericht Münster mit Urteil vom 20.08.2010 die Pflegenoten sogar für rechtswidrig und eine Irreführung der Verbraucher:
Die Beurteilungskriterien seien nicht geeignet, die von den Pflegeheimen erbrachten Leistungen und deren Qualität sachgerecht zu beurteilen.
Eine wissenschaftliche Studie vom Juli 2010 habe ergeben, dass nur zwei der 64 Einzelnoten den vom Gesetzgeber geforderten Maßstab der Ergebnisqualität beträfen.
Ganz überwiegend werde – so das Gericht – nur die Qualität der Dokumentation geprüft.
Der Streit ist damit nicht beendet. Da Sprungrevision zugelassen wurde, wird sich alsbald das Bundessozialgericht mit der Angelegenheit befassen (müssen).
Nach Mitteilung des vdek vom 02.09.2010 wurden bislang 240 Klagen vor den Sozialgerichten erhoben (davon lediglich 9 vor den Landessozialgerichten entschieden – Stand: 16.08.2010).
2% der Einrichtungen versuchten, die Veröffentlichung der Pflegenoten zu verhindern. In etwa 50% der Fälle waren die Klagen nicht erfolgreich (vor den Landessozialgerichten 7 von 9).
Unabhängig von den gerichtlichen Auseinandersetzungen gab es auch von anderen Seiten lebhafte Kritik, so auch von Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk.
Insgesamt 82 Bewertungskriterien sind bei der Pflege-Schulnotenfindung bedeutsam:
Vorrangig entscheidend sind folgende vier Bereiche (64 Kriterien):
- Pflege und medizinische Versorgung … 35 Kriterien
- Umgang mit demenzkranken Bewohnern … 10 Kriterien
- Soziale Betreuung und Alltagsgestaltung … 10 Kriterien
- Wohnen, Verpflegung, Hauswirtschaft und Hygiene … 9 Kriterien
Dazu kommt eine gesonderte Befragung der Heimbewohner mit 18 Kriterien.
Die Einzelbewertungen bei den jeweiligen Bereichen führen zu einer Durchschnitts-Gesamtnote. Dabei können Kriterien, die im Wesentlichen auf die Struktur- und Prozessqualität abstellen, andere Kriterien der Lebens- und Ergebnisqualität ausgleichen.
Beispiel:
Ordentliche Dokumentationsarbeiten werden den Feststellungen zum Ernährungszustand und der Wundversorgung gegenübergestellt. Wenn die Dokumentation stimmt, können damit tatsächliche Versorgungsmängel verdeckt werden mit der Folge, dass noch eine erträgliche Note herauskommt.
So war es möglich, dass das Caritas-Pflegeheim in Mönchengladbach-Giesenkirchen am 04.06.2010 vom MDK geprüft wurde und die Gesamtnote 1,4 erhielt. Die Angehörigennote lautete sogar 1,1.
Dies, obwohl es seit Monaten zahlreiche Beschwerden über vielfältige Pflegemängel und dann sogar Ermittlungen von Polizei und Staatsanwalt gab.
Mittlerweile wurden zwei Führungskräfte des Caritasverbandes entlassen und die Geschäftsführung des Heimes zur Sanierung einer Fremdfirma übertragen.
Es wäre geboten gewesen, dass Schulnotensystem und seine Umsetzung von Anfang an entscheidend auf die Lebens- und Ergebnisqualität abzustellen. Damit wäre allein das maßgeblich geworden, was an Pflege beim Bewohner ankommt und nicht das, was auf dem „Papier“ steht.
Das hätte auch den gesetzlichen Vorgaben in § 112 ff. SGB XI entsprochen!
Mittlerweile haben auch die Krankenkassen anerkannt, dass die Notenvergabe schnellstmöglich geändert werden muss. Nach Mitteilung des vdek vom 02.09.2010 müssen bei der Pflegenotenvergabe die Risikokriterien deutlicher berücksichtigt werden.
So z.B. die Wundversorgung, Hilfe bei Essen und Trinken, Hilfen bei Inkontinenz und Schmerzbekämpfung.
Nicht pflegeintensive Kriterien, wie Güte der Dokumentation, darf nur eine geringe Bedeutung im Zusammenhang mit der Gesamtnote zukommen.
Im Übrigen wird jedwede Notenvergabe immer problematisch sein. Denn in einem Gutachten der Fachhochschule Münster vom 21.04.2010 heißt es u.a.:
„Es gibt keine pflegewissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse über valide Indikatoren der Ergebnis- und Lebensqualität der pflegerischen Versorgung in Deutschland“.
Bedauerlich ist aber auch, dass bei der Pflegenotenermittlung nicht einmal die „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“ Berücksichtigung findet.
Auch das Funktionieren des Beschwerdemanagements wird nicht wirklich durchleuchtet! Denn Pflegekräfte und Angehörige müssen bei Benennung von Mängeln usw. mit Nachteilen und Repressalien rechnen.
Selbst wenn die Schulnotenbewertung rechtens und nachvollziehbar wäre:
Bessere Pflege-Rahmenbedingungen kann man nicht mit Noten und vermehrtes Prüfen erzwingen.
Der Druck auf das Personal wird nur verstärkt, ohne dass damit wirkliche Verbesserungsmöglichkeiten gegeben sind. Der Frust des Personals wird wahrscheinlich noch größer!
Wichtiger als Schulnoten wäre daher eine wirkliche Reform der Pflegesysteme an „Haupt und Gliedern“.
Ein erweiterter Pflegebedürftigkeitsbegriff und deutliche Leistungsausweitungen, die eine zuwendungsorientierte Pflege ermöglichen, sind dringend erforderlich.
Zu einer Reform gehört zwingend, dass erheblich mehr Pflegefachpersonal in den Pflegeeinrichtungen zum Einsatz kommt.
Menschen werden nur durch Menschen gepflegt und Abschied von der sog. Minutenpflege geht nur über Personalverstärkungen.
Für die bundesweit einheitliche Personalberechnung in den Pflegeeinrichtungen, aber auch in den Krankenhäusern, bedarf es der Schaffung von Personalbemessungssystemen. Zurzeit erfolgt der Pflege-Personaleinsatz mehr oder weniger nach Kassenlage.
Ein untragbarer Zustand!
Dringend geboten ist auch die Stärkung der Rechte von pflegenden Angehörigen. Nur so kann man dem Prinzip „ambulant vor stationär“ gerecht werden.
Es erscheint auch erforderlich, die Rechtszersplitterung im Pflege- und Heimrecht rückgängig zu machen.
Demnächst haben wir 16 unterschiedliche Heimgesetze mit entsprechenden Ausführungsführungsvorschriften.
Andererseits ist der Bund zuständig für das Pflegeversicherungs- und Vertragsrecht.
Manfred Borutta, Pflegewissenschaftler, Amt für Altenarbeit im Kreis Aachen, schrieb in der Zeitschrift „Dr.med.Mabuse“, Juli/August 2009 u.a.:
Man bleibt orientierungslos, wenn man sich anhand von Noten ein Bild von der Qualität der Pflegeleistungen machen will. Pflege ist so nicht messbar.
Wir müssen in dieser Gesellschaft endlich diskutieren, was uns Pflege bedeutet.
Werner Schell
Dozent für Pflegerecht und Vorstand von Pro Pflege – Selbsthilfenetzwerk