Stolperfallen
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Ein unglücklicher Umstand, eine Unaufmerksamkeit oder ein Versehen bringen einen Menschen zum Stolpern. Ein falsches Wort zur falschen Zeit am falschen Ort kann nicht nur zum Stolpern, sondern gar zur bösen Falle führen.
Solch eine Stolperfalle endet in einer Diktatur nicht selten mit dem Tod.
- Ein falsch-verstandener Witz.
- Ein falscher Kommentar.
- Ein zu offenes Wort.
- Eine falsche Beschuldigung.
Das reicht schon, um einen Menschen ins Unglück zu stoßen und im schlimmsten Falle dessen Leben zu beenden.
Ein unglückselige Stolperfalle muss auch Heinrich Backes widerfahren sein (Bild um 1938/39).
An sein Schicksal erinnert ein Stolperstein vor dessen Elternhaus auf der Hansastraße 54.
Heinrich Backes war kein Jude. In seinen Ahnenreihen fanden sich auch keine Roma, Sinti, Asiaten, Dunkelhäutige oder sonst was. Er kam aus einer „ordentlichen, deutschen Familie“ und sah auch nicht „fremdländisch“ aus (Bild: Familie Backes um 1933).
Heinrich Backes war auch kein „Politischer“. Er war in keiner Partei, war kein Gewerkschaftsfunktionär, kein „Kirchenmann“. Nichts. Er war „nur“ ein ganz normaler Landarbeiter, kein ungewöhnliches Berufsbild in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Aber gerade das macht sein Schicksal so übertragbar auf Jedermann und damit so unfassbar.
Unfassbar, weil wir es heute gewohnt sind, frei sprechen zu können, die Freiheit der Presse und die Vielfalt der Medien schätzen.
Weil wir in einem Rechtsstaat leben, auch wenn das „gefühlte“ Recht nicht immer mit dem „gesprochenen“ Recht übereinstimmt.
Weil wir verreisen können, wohin wir wollen oder jederzeit offen auswandern aber auch zurückkommen, können.
Weil wir offen um unsere Toten trauern dürfen, keine Todesursache vertuschen oder verheimlichen müssen. Denn selbst so tief-menschliche Gefühle wie Anteilnahme und Trauer sind in einer Diktatur keine Selbstverständlichkeit, bergen sie doch die Gefahr, selbst zum Opfer von Repressalien oder Tod zu werden.
Die Familie von Heinrich Backes konnte nicht offen sprechen (Bild: Familie Backes um 1935). Heinrich’s Asche wurde irgendwo verstreut. Es gab für seine Eltern und Geschwister keinen Ort, an dem sie offen trauern konnten.
„Seit der Stein von unserem Haus liegt, haben wir das Gefühl, dass Heinrich nach Hause gekommen ist“, meint Marlene Milesi, Nichte von Heinrich Backes, die gemeinsam mit Ehemann Hans-Otto heute in Heinrich’s Elternhaus lebt .
Mit der Verlegung des Stolpersteins kommt auch ein Stück Familiengeschichte zur Ruhe, auch wenn nicht alle Hintergründe, die zu seinem Tod führten, Aufklärung finden.
Heinrich Backes wurde am 23.11.1915 in Neuwerk geboren.Seinen Wehrdienst leistete er in den Jahren 1934/35. Gleich zu Beginn des 2. Weltkriegs, Anfang September 1939, wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Kein Jahr später war auch er ein Opfer der NS-Diktatur geworden.
Sein Schicksal wurde verschwiegen. Nur spärliche Informationen gelangten zu seinen Eltern und noch spärlichere Informationen gaben sie an seine Geschwister weiter. So blieb ein spürbares Geheimnis in der Familie bestehen, das auch auf die Familienmitglieder bis heute wirkte, die Heinrich Backes nur von alten Erinnerungsfotos her kannten.
Heinrich Backes teilte bei Verwandten, Nachbarn und Bekannten offiziell das Schicksal seines jüngeren Bruders: er galt als im 2. Weltkrieg gefallener Soldat im Dienst um das Vaterland. Bei seinem Tod war er erst 24 Jahre alt.
Die Ahnung, dass da „noch etwas anderes war“, wurde für Neffen und Nichten erst Jahrzehnte nach Kriegsende zur Gewissheit.
Schweigen schützt vor Tuscheleien und Repressalien. Mit Schweigen kann man aber auch den eigenen Schmerz und das Unbegreifliche tief im Inneren vergraben und wegsperren. Im Schweigen zeigt sich auch die ganze Hilflosigkeit, mit der Heinrichs Eltern und Geschwister seinem Schicksal gegenüberstanden.
Erst mit der Verlegung „seines“ Stolpersteins fand sich für die Familie ein Ort des Gedenkens, aber auch Stolz und Achtung vor dem „Freigeist“ des Onkels und eine tiefe Freude, dass nach über 60 Jahren seine Geschichte wiederentdeckt und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt wird.
„Wir sind dankbar, dass sich nach so langer Zeit noch Menschen für das Schicksal unseres Onkels interessieren“, meint das Ehepaar Milesi.
Verwandte, die Heinrich Backes noch kannten, schilderten ihn als „aufmüpfig“ und „kritisch“, als „einen, der sich nicht alles gefallen ließ.“
War es also das falsche Wort am falschen Platz zur falschen Zeit, das Heinrich Backes mit dem Leben bezahlte? Fahnenflucht als Grund für seine Ermordung ist auszuschließen, denn die Wehrmacht hätte in diesem Falle an die Familie ein Urteil zugestellt. Aber selbst das gab es nicht.
Viele Unterlagen wurden von den Nazis kurz vor Kriegsende verbrannt, nur wenige Daten konnte die Familie über das Stadtarchiv recherchieren:
„Heinrich Backes sollte wegen schlechter Führung in der Truppe in einen Sonderverband in Dedelsdorf. Diese Abteilung wurde 1939 aufgelöst. Im Zuge dieser Auflösung wurde Heinrich Backes aus der Wehrmacht entlassen und an die Gestapo in Braunschweig überstellt.
Am 04.09.1939 nahm ihn die Gestapo in Braunschweig in eine sogenannte „Schutzhaft“. Am 12.09.1939 wurde er in das KZ Sachsenhausen überführt. Am 06.04.1940 wurde er zum KZ Flossenbürg (nahe Erlangen) von unbekannt überstellt. Dort verstarb er am 03.07.1940. Todesursache: unbekannt.“
Im Konzentrationslager Flossenbürg waren viele politische Häftlinge, wie z.B. Admiral Wilhelm F. Canaris oder Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, interniert.
Heinrich Backes zeigte Selbstbewusstsein und Courage, weil es seinem Wesen widerstrebte einfach Dinge an- und hinzunehmen. Er dachte eigenständig, sprach offen seine Gedanken aus und bezahlte vermutlich dafür mit seinem Leben. Den Recherchen zufolge darf einzig „schlechte Führung“, keine Fahnenflucht, als Begründung für seinen Tod angesehen werden.
Worin seine „schlechte Führung“ bestand, darüber hat die Familie bis heute keine amtlichen Aufzeichnungen gefunden. Einzige Hinweise auf mögliche Gründe für seine Inhaftierung in einem Konzentrationslager sind Berichte von Kameraden, mit denen er gemeinsam in der Wehrmacht diente.
Die Familie hat nach seinem Tod aus einem Brief seiner Kameraden erfahren, dass er Schikanen von Seiten eines Unteroffiziers ausgesetzt war, gegen die er sich – auch im Namen mitbetroffener Kameraden – gewehrt hatte.
Doch eines scheint aus dem Charakter Heinrich Backes sicher: Er marschierte im übertragenen Sinne nicht im Gleichschritt.
Ein junger deutscher Mann aus gutem Elternhaus, der durch keine besondere politische Betätigung auffiel, stolperte über den herrschenden Zeitgeist einer Diktatur, in der für Widerspruch und Andersdenkende kein Platz war. Er bezahlte dafür mit seinem Leben.
Da haben wir es heute einfacher. Freiheiten und Rechte sind für uns Alltag und Gewohnheit.
Der Volkstrauertag mahnt einmal jährlich der Opfer der beiden Weltkriege, der Opfer von Diktatur und Willkür, zu gedenken: „Damit so etwas nie wieder passiert“. Dabei übersieht man leicht, dass erst vor 22 Jahren eine andere deutsche Diktatur in einem anderen Deutschland endete.
So schnell ändern sich Dinge und Sichtweisen, so schnell zieht Selbstverständlichkeit ein.
Stolpersteine, wie der Stolperstein vor Heinrich Backes‘ Elternhaus, erinnern uns auch im Alltag daran, dass Demokratie und Freiheit alles andere als selbstverständlich sind.
Die Stolperfallen für unsere Demokratie sind Bequemlichkeit und Ignoranz.