Urlaubslektüre – Gé Reinders: „Het zakdoekje“
Otto Rick [ the_time('d.m.Y'); ?> - the_time('H:i'); ?> Uhr]
Von einer Nacht mit einer jungen Frau in der dunklen Zelle des Polizeigewahrsams und einem Taschentuch, in das eine Mutter die Stationen ihrer Irrfahrt durch die Konzentrationslager stickte.
Dreieinhalb Wochen begleitete mich Harry Mulischs Roman „De Aanslag“ auf unserer Tour mit Fahrrad und Zelt durch das Nachbarland. Der Erfolgsroman erlebt – zufällig – am 19. Januar 2011, 20 Uhr, als „try-out” in Roermonds Theaterhotel De Oranjerie seine Premiere in einer Bühnenfassung.
Als wir gerade in Zwolle waren, entdeckte ich in der Buchhandlung Waanders eine Neuerscheinung eines mir bis dato unbekannten Autors. Sie trägt den Titel Het zakdoekje.
Der Autor, Gé Reinders, ist mir als Liedermacher bekannt. Vor rund 30 Jahren stellte der Musiklehrer für mein damals noch namenloses Programm die Musik zusammen. Damals hieß unser Sender noch „Omroep Zuid“, woraus bald „omroep Limburg“ wurde. Zwanzig Jahre lang sollte mein Programm Radio Euregio heißen.
Wöchentlich berichtete ich über die Sendemasten des öffentlich-rechtlichen Hörfunks im Nachbarland von dem, was sich bei uns, den Oosterburen, den Nachbarn gleich hinter der Grenze zwischen den alten Kaiserstädten Nijmegen und Aachen getan hatte und was die Limburger in der nächsten Woche bei uns erwartete.
Gé hatte also sein erstes Buch geschrieben. Das machte mich neugierig. Und wie der Zufall so spielt, trieb ihn ein besticktes Taschentuch auf die Spur, nach dem, was seine Mutter während der deutschen Besatzung erlebt und durchgemacht hatte. Schon der Klappentext machte deutlich, dass es dem Roermonder Jungen ähnlich ergangen sein muss wie Anton Steenwijk.
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Diesen Namen gab Harry Mulisch, der Grand Seigneur der niederländischen Literatur, der Hauptfigur 1982 seiner Romanfigur, in die ich mich gerade hineinversetzt hatte.
So viel zum Motiv, das mich bewegte, € 17,95 für die ZOEKTOCHT NAAR HET VERZETSVERLEDEN VAN MIJN MOEDER, ISBN 978 90 388 9357 0, auszugeben. Und es hat sich gelohnt.
De Aanslag, in deutscher Übersetzung Das Attentat, gehört zu den bekanntesten Werken des 1927 in Haarlem geborenen Sohnes eines ehemals österreichischen Offiziers und einer Frankfurter Jüdin.
Seine Geschichte zeigt viele Übereinstimmungen mit der von Anne Frank.
Am Mythos ihres Vaters, Otto Frank, kratzte während unseres Urlaubs 2002 nicht nur die niederländische Presse, sondern u.a. DER SPIEGEL (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-21732045.html ).
Vater Frank soll mit den Nazis kollaboriert haben. Doch im Gegensatz zu Karl Viktor Kurt Mulisch, der als Banker in Amsterdam jüdisches Eigentum konfiszierte und damit seine geschiedene Ehefrau und den Sohn schützen konnte, gelang dies dem Vater der Autorin des berühmten Tagebuches nicht.
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Auch Gé Reinders fragt sich an einer Stelle gegen Ende seines Buches einmal, ob seine Familie mütterlicherseits vielleicht jüdischen Glaubens gewesen sei, er vielleicht jüdische Wurzeln habe. Hatte er vielleicht deshalb wie seine Mutter eine ungewöhnlich lange Nase?
Hatten die Nazis vielleicht deshalb seine Mutter aus ihrem Heimatdorf Helden, wo die dmals Dreiunddreißigjährige als Lehrerin an der katholischen Schule unterrichtete, abgeholt?
Doch diese Fragen stellt sich der Liedermacher wohl eher nach einer unruhigen Nacht nach dem Besuch eines der vielen Konzentrationslager, die er auf der Suche nach dem, worüber seine Mutter daheim weder mit ihm noch mit seinen beiden älteren Geschwistern je gesprochen hatte.
Schon 1982 singt Gé Reinders auf seiner ersten CD von Mien moeder in ’45. Doch erst nach Mutters Tod ergriff ihn die Obsession, eine Antwort auf die offenen Fragen zu suchen.
Auf seiner Website http://www.g-reinders.nl/ finde ich die Rede des NOS-Kollegen Ad van Liempt anlässlich der Präsentation von Het Zakdoekje. Besser kann ich es nicht ausdrücken. Ich übersetze:
„Meine sehr verehrten Damen und Herren,
zum Befreiungstag 2004 berichtete ich aus Venlo von der Gedenkfeier für die Toten des Zweiten Weltkrieges in Venlo. Diese wollte ich mit einem festen Team der NOS [bei uns ARD O.R.] zum einen durch eine Dokumentation der enormen Schäden hinterlegen, welche die Bomben damals in Venlo hinterlassen hatten, und zum zweiten etwas mit Gé Reinders machen, einem waschechten Limburger.
Gé war dazu bereit und wollte für uns „Naar Huis” singen, ein Lied über seine Mutter, das er gerade eingespielt hatte. … Doch Gé machte noch mehr.
Er hatte eine Schachtel mitgebracht und zeigte sie uns während der Sendung. Am Abend zuvor hatte er sich zum ersten Mal getraut, die Schachtel zu öffnen. Schon lange zuvor hatte er sie von seiner Mutter bekommen, seine, Mutter Grada van Horen, die nie darüber sprechen wollte, was sie im Zweiten Weltkrieg erlebt hatte. In der Schachtel war das Taschentuch, das es heute bis auf den Titel auf Gé’s Buch gebracht hat.
An diesem Abend erzählte Gé zum zum ersten Mal über die Rätsel, die ihm seine Mutter [damit] aufgegeben hatte. Was hatte sie durchgemacht? Wie war sie in einem Lager gelandet? Was hat sie dort erlitten? Gé wusste es nicht. Damals muss ihm der Gedanke gekommen sein, dahinter zu kommen.“
Heute, sechs Jahre später, ist alles Schwarz auf Weiß nachzulesen. Ich habe es bereits lesen dürfen. Es ist die Geschichte einer Spurensuche, auf die sich Gé nach der Vergangenheit seiner Mutter gemacht hat.
Seine Reise zurück in die Geschichte führte ihn in viele Archive, brachte ihn in Kontakt mit vielen Menschen, brachte viele Tatsachen ans Tageslicht. Mutter Grada, Lehrerin an einer Grundschule, war in den Widerstand hineingerutscht. In ihrem Wohnort Helden.
Und war Teil der Widerstandsbewegung geworden. Und am 17. Mai 1944 wurde sie mit 51 anderen Leuten aus Helden festgenommen. Der Sicherheitsdienst, der in Maastricht saß, hatte ein ganzes Widerstandsnetzwerk ausgehoben.
Gé hat alles aufgespürt. Die Dossiers der Deutschen, die sie verhört haben, sogar ein Protokoll ihres Verhörs ist aufgetaucht. Grada landete in der Frauenabteilung in Vught. Und im September 1944 – sie muss wie andere Lagerinsassen das Artilleriefeuer der Alliierten in der Ferne gehört haben – wurde sie auf einen Zug verfrachtet und Richtung Ostdeutschland abtransportiert.
Sie landete in Ravensbrück, ausgerechnet in Ravensbrück, der Hölle auf Erden. Menschenleben zählten hier nicht mehr. Kaum Essen, keine Hygiene, keine Medikamente. Die Frauen starben wie die Fliegen.
Grada hat überlebt. Sie landete schließlich in Dachau, wo sie in der Kamerafabrik AGFA arbeiten musste. Danach wurde sie befreit. Im Mai 1945 konnte sie nach Hause.
Sie reiste mit dem Zug, zusammen mit anderen Frauen aus dem Lager. Gé hat mit einigen von ihnen gesprochen. Eine von ihnen, Toby, erzählt in seinem Buch davon:
,Wir waren im selben Zug. Erst ging es durch die Schweiz. Dann durch Frankreich, Belgien und bei Bergen wieder in die Niederlande. Bei der Einreise in jedes Land wurden wir zunächst einmal entlaust, doch als wir die Grenze von der Schweiz nach Frankreich überquerten, spielt ein Blasorchester. Wir werden mit Pauken und Trompeten empfangen. Ganz anders in den Niederlanden. In Oudenbosch wurden Grada und ich in einem Kloster untergebracht. Dort wurden wir als Moffenhuren beschimpft.’
Ein Zitat, das nachdenklich macht: Frauen, die sich gegen den Besetzer gestellt und in Ravensbrück dem Tod entkommen sind, als Moffenhuren beschimpfen. [Zudem eine katholische Frau und das in Oudenbosch, wo an einer einzigen Straße sich gleich Kopien des Petersdoms in Kopie des Roermonder Architekten Dr. Pierre Cuypers vis à vis gegenüberstehen. O.R.]
Demgegenüber das Blasorchester in der Schweiz – mit Pauken und Trompeten, oder met toeters en bellen, wie es Gé [der Botschafter limburgischer Volksmusik] im ganzen Land zum Begriff machte.
Hier und heute geht es um Gé, den Schriftsteller. Ich gebe ehrlich zu, ich bin tief beeindruckt von seinem Buch. Was mich am meisten anspricht ist der Stil, so schlicht, wie er die Geschichte seiner Mutter erzählt. Die Geschichte an sich schon ungewöhnlich genug, dafür bedarf es keiner großen Worte. Gé schreibt wunderschön, er ist ein Ökonom der Worte.
Bleibt nur nach das große Rätsel. Warum erst jetzt? Warum hat sich zu Lebzeiten seiner Mutter nie jemand für ihre Rolle im Widerstand interessiert, für die Ängste, die sie gehabt haben muss, für die Ursache ihrer Alpträume?
Es ist die Geschichte, die man schon so oft gehört hat: Menschen, die etwas mitgemacht haben, schwiegen, sie gingen über zur Tagesordnung, bauten eine neue Existenz auf. Gé hat eine dieser Frauen interviewt, die noch lebt, auch eine Grada, Grada Verhaegh. Sie findet herrliche Worte dafür:
,Als ich nach Hause kam, wurde über gar nichts geredet. Niemand sagte etwas. Niemand fragte etwas. Niemand fragte: Wie ist es gelaufen? Das Leben ging einfach weiter. Als wäre nichts geschehen. Meine Mutter ließ mich manchmal etwas länger im Bett liegen. Das war’s.’
Am Ende seiner Spurensuche ist Gé mit seiner Frau auf Reisen gegangen. Nach Ravensbrück und nach Dachau. Ein schwerer Weg voller Emotionen. In Ravensbrück sehen sie eine Plastik. Gé schreibt:
Wenn ich acht prächtige Statuen sehe, die hübsche, magere Frauen darstellen, muss ich weinen. Hier ist meine Mutter gewesen, gegen ihren Willen. Hier hat sie eine ,unmenschliche’ Behandlung über sich ergehen lassen müssen.
Das mit der unmenschlichen Behandlung ist ein Zitat seiner Mutter, Gé las es in den aufgespürten Papieren. Er hat fast alles gefunden, was er gesucht hat. Er darf stolz sein auf seine historische Spurensuche. Doch nicht nur darauf.
Der Drang, seine Mutter nach ihrem Tod wirklich kennenzulernen, hat ihn über sich hinauswachsen lassen. Er hat sich als ein Forscher erwiesen, der sein Fach gelernt hat. Daneben erwies er sich als ein begnadeter Autor.
Überdies muss er auch ein großer Bildhauer sein. Denn mit diesem Buch hat Gé Reinders seiner Mutter Grada van Horen eine rührendes Denkmal gesetzt.”
Bleibt nur noch anzumerken: Wer Gé, den Forscher, Autor, Bildhauer kennenlernen möchte, hat Glück, dass er auch noch ein limburgischer Barde ist. Am 2. April lädt er um 20 Uhr in den Theatersaal zu seinem aktuellen Bühnenprogramm Helden ins Theaterhotel de Oranjerie ein.
Daheim lege ich noch einmal Gé Reinders erste CD mit eine Ballade auf die Heimkehr seiner Mutter aus deutscher Gefangenschaft auf, die ich meinem Beitrag über meine Urlaubslektüre anfügen möchte.
Für Mitbürger der großen Stadt in einer deutschen Fassung, die ich aus dem Limburgschen übertragen habe:
Meine Mutter in ’45
Eine hübsche, magere Frau in Gefangenenklamotten
Glücklich mit einem Riegel Schokolade von einem braunen Soldaten
Formulare ausfüllen und auf Internats-Englisch rumalbern
Bevor sie nach Hause gehen konnte
Sie wollte so gern nach Hause
Erster Klasse Sonderzug durch die Schweiz
Von Lyon wieder in einem Viehwagen Richtung Norden
Immer näher, doch immer weniger glücklich
In Belgien schimpfte man sie aus
Grada kommt heim
Vom Bahnhof in Horst-America
Von einem Lastwagen bis halbwegs Beringen gebracht
Sie erschreckte sich zu Tode: alles war kaputt
Mehr hat sie später darüber nie gesagt
Nach Haus, nach Haus
A ha ha ha, Grada kommt heim
Wohl, dass ihr [Bruder] Giel im Hof begraben war
Wohl, dass sie bei AGFA hatte arbeiten müssen
Aber wofür sie festgenmmen wurde, haben wir nie begriffen
Und auch nicht, was da passiert ist auf dem Weg nach Haus
Vom Bahnhof in Horst-America
Von einem Lastwgen bis halbwegs Beringen gebracht
Sie erschreckte sich zu Tode: alles war kaputt
Mehr hat sie später darüber nie gesagt
Nach Haus, nach Haus
A ha ha ha, Grada kommt heim
In Träumen war sie wieder im Lager
Träume machten sie fix und fertig
Dann hatte sie den ganzen Tag schwarze Augen
Ging in Schwarz
Bis der Krieg daheim aus war