Erlebtes im Gefangenenlager Wickrathberg – von Heinz Pankuweit, Bonn-Bad Godesberg

Red. Wickrath [ - Uhr]

ehemalige_2009_katz_005_pan1Heinz Pankuweit berichtet beim Ehemaligen-Treffen 2009 in Wickrathberg über das Erlebte im Gefangenenlager:

„Stacheldraht und nackte Erde, Hunger und Durst, Krankheit und Tod geben nur unvollständig wieder, wie Millionen von Menschen im Verlauf eines furchtbaren Krieges gelitten haben – nicht nur in Deutschland.

Was wir als blutjunge Kriegsgefangene gegen Endes des Zweiten Weltkrieges in den Rheinwiesenlagern und hier auf dem Boden von Wickrathberg erlebt haben, ist mit Worten nicht zu beschreiben.

Unzählige Menschen in vielen anderen Lagern der Welt wird Ähnliches oder noch Schlimmeres erfahren sein. Alle waren Opfer eines barbarischen Krieges, den sie nicht gewollt hatten.

Sie mussten büßen für Taten, die sie selbst nicht begangen und schon gar nicht zu verantworten hatten.

Die Geschehnisse hinter Stacheldraht haben viele von ihnen so erschüttert, dass sie – sofern sie überlebten – diese zeitlebens nicht vergessen können. Sie sind ein nicht wegzudenkender Teil unseres Lebens.

Ich selbst war damals 19 Jahre alt und hatte – wie viele andere – bereits ein mehr als zweimonatiges Martyrium in den Lagern Gummersbach, Remagen und Koblenz-Lützel hinter mir.

Spätere Generationen können sich nicht vorstellen, unter welchen unzumutbaren, menschenverachtenden Bedingungen die hinter Stacheldraht eingesperrten Gefangenen stündlich und täglich ums Überleben kämpften. Allzu viele verloren diesen Kampf – auch hier in Wickrathberg.

Besonders schrecklich erlebten wir die vielen kalten und feuchten Nächte, die kaum ein Ende nehmen wollten. Wo und wie sollte man schlafen?

Ich selbst musste – wie viele meiner Kameraden – insgesamt etwa 90 Nächte, davon in Wickrathberg etwa 20 Nächte auf nacktem Erdboden ohne Zelt, ohne Mantel oder eine wärmende Decke verbringen. Dass man so etwas durchstehen konnte, grenzt an ein Wunder.

Heute wäre das eine unglaubliche Sensation, man käme mit Sicherheit ins Guinessbuch der Rekorde und würde wahrscheinlich rund um den Erdball von Talkshow zu Talkshow durchgereicht.

Dass man von etwa 200 – 222 im Lager Wickrathberg Verstorbenen ausgeht, ist ein bedauerlicher Irrtum. Die Realität sah leider anders aus.

Dazu ein eigenes Erlebnis: An einem frühen Vormittag Anfang Juli 1945 ging ein Arbeitskommando von zehn Gefangenen mit einem älteren schottischen Bewacher aus Edinburgh durch das Lager, um einen Weg von Unkraut zu befreien. Für uns eine Beschäftigungstherapie.

Für die Verständigung zwischen Bewacher und Gefangenen war ich zuständig. Der sehr menschliche Schotte hatte zu Hause einen 16-jährigen Sohn und daher großes Verständnis für unsere Sorgen und Nöte. Er wollte alles genau wissen und fragte sehr viel.

Da entdeckte ich in einiger Entfernung einen Stapel. Zunächst dachte ich an Eisenbahnschwellen. Die Sache erweckte meine Neugier. Meiner Bitte, den Stapel einmal näher betrachten zu dürfen, entsprach der freundliche Schotte.

Bald aber erkannte ich, dass es sich um tote Gefangene handelte. Sie waren offenbar in der Nacht bzw. am Vortag gestorben. Alle waren bekleidet, Schuhe und Strümpfe aber fehlten. Ein Anblick, den ich nie vergessen werde. Vor mir lagen sage und schreibe 20 – 24 tote Kriegsgefangene – Opfer einer einzigen Nacht bzw. eines Tages.

Und das in einem Sommermonat – ohne Verwesungsgeruch. Weitere Gedanken machte ich mir nicht. Man war abgestumpft, typisch für unsere damalige Situation. Jeder hatte mit sich selbst genug zu tun.

Zwei Tagebuchverfasser berichten unabhängig voneinander über eine ähnlich hohe Zahl von Toten.

So spricht der Gefangene Sweers von 20 – 40 Toten pro Tag, während Brägelmann bei einem Sanitätszelt etwa 25, 30 tote Landser sah (S. 306 des Buches von Herbert Reiners über das Kriegsgefangenenlager Wickrathberg 1945).

Die von der britischen Militärregierung im November 1945 dem damaligen Bürgermeister von Wickrathberg übergebene Liste mit den Namen von insgesamt 222 Toten (S. 378) kann daher nur unvollständig oder aber nicht die einzige Liste sein.

Man muss leider davon ausgehen, dass die tatsächliche Zahl der im Lager Verstorbenen um ein Vielfaches höher liegt als die – aus welchen Gründen auch immer – bisher genannte Zahl.

Dabei ist auch zu bedenken, dass das Lager Wickrathberg etwa 120 Tage bestand und bei den unterstellten 222 Todesopfern täglich im Durchschnitt weniger als zwei Menschen gestorben wären, und das bei weit über 100.000 Gefangenen.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass die britische Lagerleitung in einer auch für sie schwierigen Situation bemüht blieb, die unmenschlichen Verhältnisse im Lager durch das Aufstellen einiger Zelte und durch eine etwas bessere Ernährung erträglicher zu gestalten. Viele haben das nicht mehr erlebt, sei es, dass sie vorher bereits gestorben oder entlassen waren.

Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges starben weltweit bis zu 60 Millionen Menschen – eine unfassbare Anzahl.

Diese horrenden Verluste lassen sich nicht bagatellisieren. Sie zu verharmlosen hieße, die geschichtliche Wirklichkeit und die Wahrheit zu verdrängen.

Am 17. April 1945 hatten sich rund 325.000 deutsche Soldaten im sogenannten „Ruhrkessel“ den alliierten Truppen ergeben. Alle glaubten, dem Krieg glücklich entronnen zu sein. Das aber war ein Trugschluss, wie sich bald herausstellen sollte.

Denn nun begann für jeden Einzelnen ein anderer, ungleich härterer Kampf. Ein täglicher Kampf ums Überleben, gegen den wir uns – hinter Stacheldraht eingepfercht und stark bewacht – nicht wehren konnten.

Ohne Zelt, ohne Mantel und ohne eine wärmende Decke lagen die meisten auf nacktem Erdboden bei einer Ernährung, die diese Bezeichnung nicht im Geringsten verdiente, weil es häufig höchstens einmal am Tage etwas, was man mit einem oder zwei Teelöffeln in sich aufnehmen konnte, gab.

So begann das Leiden und Sterben in den zahlreichen provisorischen Camps, die der Genfer Konvention in keiner Weise entsprachen.

Wir hatten uns – zwar vom Krieg gezeichnet – aber relativ gesund in Gefangenschaft begeben und verließen die Elendslager als mehr oder weniger kranke, hoffnungslos unterernährte, völlig entkräftete junge Menschen.

Dass Zehn- oder Hunderttausende, die genaue Anzahl wird sich wohl nie mehr auch nur annähernd ermitteln lassen, in den Kriegsgefangenenlagern umkamen, ohne die ersehnte Freiheit und die Familien nochmals zu erleben, war eine bittere, aber logische Folge.

Die uns das eingebrockt hatten, befanden sich nicht unter uns. Sie hatten das Volk in den schrecklichsten Krieg der Weltgeschichte geführt, den die Menschen bis zum Ende durchstehen mussten.

Erlebtes kann man vergessen, Erlittenes nicht! – Das muss man verarbeiten – irgendwie.

Man muss auch sein Gewissen gegenüber den im Lager Umgekommenen erleichtern. Niemand konnte oder wollte ihnen helfen. Wir sahen sie sterben – mitten unter uns – und konnten nicht helfen. Dennoch starben sie einsam, nicht selten qualvoll ohne ärztlichen oder priesterlichen Beistand.

Dies alles geschah im kultivierten Europa des 20. Jahrhunderts. Und wir, die ebenfalls dem Tode näher als dem Leben waren, mieden die Sterbenden, schlugen einen weiten Bogen um sie, weil wir uns vor einer Ansteckung fürchteten. Wir verkrochen uns lieber in unsere erbärmlichen Erdlöcher.

Unser Verhalten war nicht kameradschaftlich. Vielleicht wirft man uns das später einmal vor. Nichtsdestotrotz maßen wir uns heute an, ihre Kameraden gewesen zu sein.

Auch Nächstenliebe im christlichen Sinne fand man kaum, jeder blieb in seiner Not sich selbst der Nächste.

Unsere Bewacher, die meisten waren wohl auch Christen, mussten ihren Vorgesetzten gehorchen und deren Befehle ausführen, oftmals gnadenlos. So ist die menschliche Gesellschaft strukturiert.

Und dennoch half uns der Glaube an Gott und Gerechtigkeit. Er blieb eine starke seelische Stütze und bewahrte uns oftmals vor der Verzweiflung, er stärkte unseren Überlebenswillen.

Solange wir Davongekommenen noch eine Stimme haben, fühlen wir uns verpflichtet, darauf hinzuweisen, welch schreckliche Auswirkungen dieser Krieg hatte – nicht nur für uns und unser Volk, sondern für viele Völker und Rassen.

Seit 1945 hat sich die weltpolitische Situation grundlegend verändert. Aus den einstigen Gegnern sind Partner und Freunde geworden. Deutschland ist wieder eine Einheit. Unser Kontinent Europa wächst heute zu einer politischen und wirtschaftlichen Einheit zusammen.

Dies ist nicht zuletzt ein Verdienst unseres ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer.

Niemand hat 1945 den Frieden und die Freiheit sehnlicher erwartet als die Gefangenen in allen Lagern der Welt. Sie waren verfolgt und gedemütigt, vielfach sogar ermordet worden. Sie haben die Unfreiheit erlebt, sie wissen, was Freiheit bedeutet.

Jeder Krieg bringt Kummer und Leid – auch beim vermeintlichen Sieger. Jeder Krieg bedeutet eine Niederlage für die Menschheit. Dennoch sind Kriege offenbar nicht auszurotten.

Zum morgigen Volkstrauertag gehen wiederum aus vielen Orten und Gemeinden Deutschlands Signale des Friedens und der Versöhnung über Ländergrenzen hinweg in alle Welt.

Auch aus Wickrathberg! – Das sind wir allen Toten schuldig!

Wir überlebenden Kriegsgefangenen bedanken uns bei allen Bürgerinnen und Bürgern von Wickrathberg, die uns in unserer Not beigestanden und geholfen haben, obwohl sie selber darbten.

Und wir müssen uns auch dafür bedanken, dass wir hier in Wickrathberg einen Platz gefunden haben, an dem wir uns gemeinsam erinnern und unserer Toten gedenken können.

Wer könnte ehrlicher und aufrichtiger mahnen, wer könnte glaubhafter und überzeugender für Frieden und Versöhnung, aber auch für Einigkeit und Recht und Freiheit eintreten als die Menschen, die den Krieg und seine Folgen so hautnah und anschaulich erlebt und durchlitten haben, wie die heute hier versammelten ehemaligen Kriegsgefangenen des Lagers Wickrathberg.“

BZMG-Bericht über das Treffen der „Ehemaligen“.

Foto: Heinz-Josef Katz – siehe auch www.der-chronist.de/wickrathberg.html

Ein Kommentar zu “Erlebtes im Gefangenenlager Wickrathberg – von Heinz Pankuweit, Bonn-Bad Godesberg”
  1. Gibt es einen besseren, eindringlicheren und nachhaltigeren Bericht zum Volkstrauertag? Nein.

    Kann so etwas wieder passieren?

    Ja.

    Was können wir dagegen tun?

    Solche Berichte von Zeitzeugen in die nachkommenden Generationen retten und tragen – über Schul- und Erwachsenenbildung, über Medien und Internet. Damit rotten wir keine Volkshetzer aus, damit machen wir es Ihnen aber schwerer.

    Politiker haben hier Vorbildfunktion! Nicht nur am Volkstrauertag, sondern das ganze Jahr.

    Politiker sind auch Menschen, und es liegt an uns, an den Medien und an Parteimitgliedern, bei zweifelhaften Bemerkungen kritisch und sachlich nachzuhaken.

    Und wenn Rechtsradikalismus und braunes Gedankengut in Deutschland wieder mehr Nährboden erhält, dann nützt nur schlecht reden nichts, dann nützt es auch nicht auf die rechte Szene als Schmuddelkinder hinzuweisen oder auf die Greuel des 2. Weltkrieges und des Nazi-Regimes, dann ist generell was faul im Staate.

    Dann wird in mahnenden Worten nur zugekleistert, was an Armut, an Bildungs- und Vorbildmangel da ist, aber die Ursachen werden nicht wirklich bekämpft.

    Die Stärke einer rechten Szene ist so gesehen ein Gradmesser für den Zustand unserer Gesellschaft und unserer Demokratie.

    Geld für Kinder, für Jugend- und Familienhilfe, für Bildung und Ausbildung und kein Kind verloren geben und auf ein schulisches Abstellgleis schicken. Nur so geht’s.

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