Kurzgeschichte: Lauter weiße Vögel
Andrea Tillmanns [ the_time('d.m.Y'); ?> - the_time('H:i'); ?> Uhr]
Vögel in Grevenbroich – an sich nichts Besonderes. Wohl aber die Geschichte über einen bestimmten Vogel. Doch hören und lesen Sie selbst – und vielleicht auch beides zugleich:
[audio:wp-content/uploads/bzmg-radio/08-11-26-lauter-weisse-voegel.mp3]Produktion: Albert Sturm
Sprecherin: Karin Sturm
Im Park gleich hinter dem Grevenbroicher Museum saß ich auf einer Bank an der Erft, um die ersten Sonnenstrahlen zu genießen, die hier am Wasser, zwischen den alten Bäumen, schon ein wenig nach Frühling rochen.
Zuerst bemerkte ich die alte Frau überhaupt nicht, die sich leise neben mich gesetzt hatte, so versunken war ich in die Betrachtung der vielen verschiedenen Wasservögel.
Die Stockenten waren natürlich in der Ãœberzahl, aber zwischen ihnen entdeckte ich auch einige Teichhühner, und da der Graureiher gerade auf der kleinen Insel gelandet war, achtete ich zunächst nicht auf die drei großen, weißen Vögel.
„Da sind sie ja wieder“, sagte die Frau neben mir leise. Als ich mich zu ihr umdrehte, konnte ich in ihrem Gesicht nicht erkennen, ob ihre Worte tatsächlich für mich bestimmt waren oder sie nur zufällig und unbewusst ihre Gedanken laut ausgesprochen hatte. Dennoch glaubte ich nach einem Augenblick des Abwartens, antworten zu müssen.
„Meinen Sie diese merkwürdige Vogelfamilie?“, fragte ich nach.
„Merkwürdig? Aber nein.“ Die alte Frau sah mich noch immer nicht an. Ihr Blick folgte den zwei Schwänen und der Gans, die zu dritt dicht beieinander über die Erft schwammen.
„Ich weiß natürlich auch, dass das nicht so ungewöhnlich ist, wie es aussieht“, sagte ich schnell und fügte, vielleicht um sie zu beeindrucken, hinzu: „In der Monographie über Höckerschwäne, dich ich kürzlich gelesen habe …“
Doch die Frau begann leise zu lachen. „In Ihren Büchern mag vieles stehen“, entgegnete sie. „Aber wissen Sie denn nicht, was der wahre Grund dafür ist, dass Hausgänse so oft in Schwanenfamilien aufgenommen werden?“
Ich sah sie nur fragend an.
„Vor langer Zeit“, begann sie ohne weitere Aufforderung zu erzählen, „gab es einmal ein Schwanenpaar, das sehr glücklich auf einem kleinen See irgendwo weiter im Norden lebte. Die beiden Schwäne hatten bereits zwei Junge gemeinsam aufgezogen, und als die Schwänin im nächsten Frühjahr merkte, dass sie erneut ein Ei erwartete, freute sie sich gemeinsam mit ihrem Mann auf den Nachwuchs.“
„Hat Ihnen Ihre Großmutter solche Geschichten erzählt?“, entgegnete ich belustigt. Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass ihre Erzählung nicht allzu viel Wert auf ornithologische Tatsachen legen würde.
„Diese und noch viele mehr“, sagte die alte Frau ruhig. „Wollen Sie die Geschichte nun hören oder nicht?“
Sie sprach erst weiter, als ich schließlich genickt hatte. „In diesem einen Jahr hatte die Schwänin gerade ihr Ei gelegt, als ihr Mann erschossen wurde. Die Schwänin wusste, dass der Jäger ihren Gefährten nur aus Hunger getötet hatte, denn die Zeiten waren schlecht damals, und Mensch und Tier litten Not. Aber wie sollte sie das Ei nun alleine bewachen? Wenn sie nicht selber verhungern wollte, musste sie ihr Nest manchmal verlassen, um Nahrung zu suchen, und die Schwänin fürchtete, dass Fuchs oder Wiesel diese Zeiten nutzen würden, um ihr das Ei zu rauben.“
„Das ist natürlich ein Problem“, stimmte ich ihr betont ernsthaft zu.
„Auf alle Fälle“, fuhr die Frau des ungeachtet fort, „kam es, wie es kommen musste: Nachdem die Schwänin mehrere Tage lang gehungert hatte, fühlte sie ihre Kräfte schwinden, und obwohl sie vor Angst um ihr Ei fast verging, blieb ihr doch nichts anderes übrig, als ihr Nest einen Moment lang zu verlassen und rasch ein wenig Nahrung auf den Feldern neben dem See zu suchen. Doch als sie gerade zurückkehren wollte, hörte sie schon die wütende Stimme des Fuchses aus der Richtung, in der ihr Nest lag.
Auch wenn sie wusste, dass sie es nicht mehr rechtzeitig erreichen konnte, lief sie so schnell wie möglich zurück zu ihrem Nest. Doch als sie endlich dort ankam, sah sie zu ihrem Erstaunen, dass das Ei unberührt war und eine weiße Gans mit gesträubten Flügeln dem Fuchs den Weg zum Nest versperrte. Als der Fuchs die Schwänin erblickte, fauchte er noch einmal wütend und verschwand dann rasch im Unterholz. – Die Schwänin hätte der fremden Gans gerne gedankt, doch die Sprache der Schwäne ist ganz anders als die der Gänse. Dennoch lernten sie rasch, sich zu verstehen, und blieben zusammen, um das Schwanenküken zu beschützen. Und als der junge Schwan älter wurde, war die Hausgans wie ein großer Bruder für ihn, der ihn, genau wie die Mutter, vor allem Bösen beschützte, das einen jungen Schwan in dieser Welt bedroht.“
Sie schwieg einen Moment lang. „Das alles ist natürlich vor langer Zeit an einem fernen Ort geschehen“, fuhr sie dann fort, „aber die Nachricht von der Gans, die für ein Schwanen-Ei ihr eigenes Lebens riskiert hatte, verbreitete sich schnell. Und wann immer nun eine Hausgans ihre Eltern zu früh verliert, kann sie sich sicher sein, in eine Schwanenfamilie aufgenommen zu werden, denn ein Schwan vergisst niemals, wer ihm oder auch seinen entferntesten Verwandten Gutes getan hat.“
Sie lehnte sich zurück und schien zu warten.
„Nun, vielleicht gäbe es korrektere Erklärungen“, sagte ich schließlich vorsichtig.
„Aber keine schönere, meinen Sie nicht?“, entgegnete sie und zwinkerte mir zu. Ich musste schmunzeln.
Schweigend starrten wir auf die Erft hinaus und beobachteten die drei weißen Vögel, die dicht beieinander das flirrende Wasser durchkreuzten.
1.
windel.willy schrieb am 27.11.2008 um 19:48 Uhr:
liebe andrea tillmanns,
du schreibst wunderschöne geschichten. danke!
kannst du den chef dazu überreden, bis weihnachten jeden tag eine geschichte zu veröffentlichen?
vielleicht ab und zu auch eine advents- oder weihnachtsgeschichte?
am liebsten habe ich es, wenn oma oder opa sie mir vorlesen.