Zorgboerderijen, Pflege und Betreuung auf niederländischen Bauernhöfen – Teil I: Das System und die Entwicklung
Red. Niederlande [ the_time('d.m.Y'); ?> - the_time('H:i'); ?> Uhr]
In den benachbarten Niederlanden gibt es rund 1.000 Zorgboerderijen. Das sind Bauernhöfe, auf denen sich die Bauern mit Fachleuten in der Regel tagsüber um hilfsbedürftige Menschen kümmern.
Etwa die Hälfte dieser Höfe mit Pflegeangebot liegen nicht weit hinter der Grenze in den Provinzen Groningen, Drenthe, Overijssel, Gelderland, Noord-Brabant und Limburg.
Zorgboerderijen wurden erst in jüngerer Zeit populär. Die ersten entstanden vor 30 Jahren. Bauern, deren Hof im Zuge der Zeit nicht mehr rentabel genug zu bewirtschaften war, suchten nach einem zweiten Standbein.
Sie entdeckten die Geschichte vom Leben auf dem platten Land vergangener Tage. Mit Beginn der Industrialisierung wurden weniger Erntehelfer benötigt. Maschinen übernahmen die Arbeit.
Die Zeit der Großfamilien, die auf einem Hof zusammen lebten und arbeiteten, ging zu Ende. Im katholischen Süden der Niederlande schossen Klöster wie Pilze aus dem Boden.
Die Kloosterlingen, wie unsere Nachbarn die nannten, die ins Kloster gingen, mussten auch von etwas leben. Auf dem Land hatten sie gelernt, sich um Menschen zu kümmern, „mit denen etwas nicht stimmt”, die es als Kranke und Behinderte schwer hatten, am gemeinschaftlichen Leben teilzunehmen.
Über diese Zeit schrieb die Maastrichterin Dr. Annemieke Klijn ein Buch mit dem Titel Tussen Caritas en Psychiatrie. Darin beschreibt die Wissenschaftlerin die gesellschaftliche Entwicklung unter dem Aspekt, wie Menschen mit alten, kranken und behinderten Menschen umgehen.
Hilfe, Pflege und Betreuung zwischen Caritas und Psychiatrie durchlaufen einen Prozess der Vergesellschaftung. Aus Selbstverständlichkeiten auf dem Dorf werden nach Industrialisierung und Landflucht Rechtsansprüche in der großen Stadt.
In De Glind, einem kleinen Dorf der Gemeinde Barneveld bei Amersfoort, gründete ein evangelischer Pfarrer die nach ihm benannte Rudolphstichting. Er gründete ein Dorf für Kinder, deren Eltern es nicht gelungen war, in der Stadt Fuß zu fassen.
Christliche Nächstenliebe als Motiv mit dem Menschen im Nachbarland versuchten, das Leben lebenswert zu machen, hundert Jahre bevor das Wort Zorgboerderij in ihrer Sprache auftauchte.
Das Phänomen Zorgboerderij nahm eine rasante Entwicklung. Während in Deutschland der Begriff Zorgboerderij offenbar nicht nur wegen der Sprachbarriere völlig unbekannt zu sein scheint, haben im Nachbarland viele Fachkräfte aus Pflege und Sozialarbeit das Arbeitsfeld Zorgboerderij für sich entdeckt.
Eine Ausnahme bildet die Bauerstochter, von der Tilman Jens am Ende seines Buches „Abschied von meinem Vater“ berichtet. Sie umsorgt den an Alzheimer erkrankten Tübinger Professor Walter Jens und nimmt ihn regelmäßig mit auf ihren elterlichen Hof. Dort macht der Vater, der vergessen hat, dass er lieber nicht mehr leben als dement werden wollte, dann einen glücklichen Eindruck auf seinen Sohn.
Längst trifft man nicht mehr nur Bauern, die sich auf ihrem Hof ein zweites Standbein geschaffen haben. Mit der „Vergesellschaftung der Pflege” – vermaatschappeling van de zorg – sind auf ehemaligen landwirtschaftlichen Betrieben Haus und Hof zu Tagespflegeeinrichtungen geworden, auf denen sich Pflegeprofis um ihre Klientel kümmern.
Am (Mobil-)Telefon meldet sich die Zorgmanagerin, kein Bauer, keine Bäuerin. Meist arbeitet sie selbstständig als Subunternehmerin oder Partnerin für eine Organisation, deren Angebot dem deutscher Wohlfahrtsverbände und Pflegedienste ähnelt.
Auch bei den Nachbarn hat alles seine Ordnung. Politiker haben mit Gesetzen geregelt, was eine Zorgboerderij ist. Zorgboeren haben sich schon zu Zeiten, als noch Ackerbau und Viehzucht ihr Metier war, zu Verbänden zusammengeschlossen. Und Behörden halten ein wachsames Auge darauf, dass auf den Zorgboerderijen alles mit rechten Dingen vor sich geht.
Hochschulen und wissenschaftliche Institute sind der Frage nachgegangen, warum Zorgboerderijen so erfolgreich arbeiten. Wissenschaftler haben so herausgefunden, was an einem geregelten Tagesablauf, der Arbeit auf dem Hof und im Garten, dem Umgang mit Tieren, den Menschen hilft.
So zeigt der Filmemacher Bob Entrop aus Breda in seiner TV-Dokumentation Boer&Zorg eine Ziege, die einem mehrfach behinderten jungen Mann hilft, allmorgendlich das Vieh auf die Weide zu treiben. Ziegen wissen, wo’s lang geht und ergreifen nicht gleich die Flucht.
Schäfer setzen sie oft mit Schäferhunden ein, um die Herde zu leiten. Vielen Menschen tut einfach die Ruhe gut und die Möglichkeit, sich unter freiem Himmel frei zu bewegen. Die Pfleger auf dem Bauernhof versuchen, für jeden, der ihre Hilfe in Anspruch nimmt, ein individuelles Konzept zu entwickeln, das seine individuellen Fähigkeiten fördert.
Im Internet stellen sich alle beteiligten Gruppen vor. Die Bauernhöfe mit ihren Pflegeangeboten zum Beispiel auf Landbouwzorg.nl.
Diese Website ist eng verlinkt mit http://www.zorgboeren.nl/. Die Verbände haben ein Gütesiegel entwickelt, dass die Qualität der Zorgboerderijen garantieren soll.
Das Angebot ist von Hof zu Hof verschieden. In Wort und Bild stellen sich viele Zorgboerderijen auch mit einer eigenen Website vor.
Eine dritte Informationsquelle im Internet ist auf jeden Fall auch noch zu empfehlen: http://www.zorgboerderijgids.nl/.
Die Angebotspalette reicht von der Tagesbetreuung mit einem individuellen, geregelten Tagesablauf als Hulpboer (Hilfsbauer) bis zur Unterbringung mit Vollpension und Verpflegung und der Möglichkeit, seinen kreativ-künstlerischen Hobbys unter fachlicher Anleitung nachzugehen.
Der niederländische Gesetzgeber hat vor allem mit seiner Pflegeversicherung festgelegt, für welche Menschen Zorgboerderijen gedacht sind. Nach dem AWBZ – Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten – kommt die niederländische Pflegeversicherung für Menschen auf,
- die wegen geistiger und/oder körperlicher Einschränkungen
- psychischer oder psychosozialer Probleme
- aus Altersgründen – Vereinsamung, Demenz und Alzheimer –
die Hilfe einer Zorgboerderij in Anspruch nehmen. Abgerechnet wird dann im Rahmen des persönlichen Budgets.
Kinder und Jugendliche mit Lern-, Entwicklungs- und Erziehungsschwierigkeiten, Autisten jeden Alters und Menschen mit Burn-out finden einen Platz auf dem Hof eines pflegenden Bauern.
Schließlich gibt es auch viele Zorgboeren, die Langzeitarbeitslosen und Menschen, die mit der Justiz Bekanntschaft gemacht haben oder Abhängigkeitsprobleme hatten, helfen, den Weg zurück in ein normales Leben einzuschlagen.
Die meisten Zorgboerderijen haben im Wesentlichen nur eine Hauptzielgruppe.
Daneben gibt es auch immer wieder Kombinationen mehrerer Zielgruppen, weil sich die Inklusion förderlich auf das angestrebte Ziel auswirkt, wie die Zorgboeren und Zorgboerinnen aus Erfahrung wissen und die Forschung herausgefunden hat.
Viele Zorgboeren nehmen auch Feriengäste auf. Die können sich dann ganz aus der Nähe ihr Bild von einer Zorgboerderij machen. Manche Höfe bieten ihren Gästen auch an, die pflegerische Infrastruktur zu nutzen.
Vielleicht finden eines Tages ja auch Betroffene die Möglichkeit, das Angebot einer Zorgboerderij gleich hinter der nahen Grenze zu nutzen. Vielleicht entdecken Bauern das Vorbild ihrer Kollegen jenseits der nahen Grenze.
Erste Schritte haben zum Beispiel das Meertens-Instituut Amsterdam und der LVR unternommen. Gemeinsam planen sie Veröffentlichungen über das Leben auf dem platten Land, bei dem Zorgboerderijen ein wichtiges Thema sind.
Otto Rick, nld