Der 1. September • „Warum Russland?“ • Eine legitime Frage, die gerade jetzt gestellt werden muss • Demnächst „marktkompatible Demokratie“ statt „Soziale Martwirtschaft“

Willy Wimmer [ - Uhr]

[30.08.2015] Am 1. September wird an den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erinnert und es war gerade die Sowjetunion, die an Menschenleben und Potential beispiellos die Folgen dieses mörderischen Krieges zu tragen hatte.

In wenigen Wochen könnten wir die fünfundzwanzigste Wiederkehr des Tages festlich begehen, an dem Deutschland wieder ein Land wurde, dessen Einheit und weit mehr über gerade diesen Zweiten Weltkrieg aus dem Verschulden seiner damaligen Führung verloren gegangen war.

Neben der tatkräftigen Unterstützung aus Washington war es gerade Moskau, das uns Deutschen diesen Weg eröffnete.

Es war Michael Gorbatschow, der vom „gemeinsamen Haus“ Europas gesprochen hatte. Wir alle in Europa waren sicher, dass wir die Schrecken der Vergangenheit würden loswerden und eine der Wohnungen würden beziehen können.

Krieg war ferner denn je.

Es war wieder im Kern Russland, das nach einem mörderischen Krieg mit einem Konzept über den möglichen Frieden an uns herangetreten ist, wie es nach den napoleonischen Kriegen mit den Vorstellungen von Zar Alexander und dem österreichischen Kanzler Metternich über eine „Heilige Allianz“ schon einmal hätte möglich werden können.

Das „gemeinsame Haus“ Europa schien ein tragfähiges Fundament zu haben, denn die Konferenz von Helsinki, die auch im Kern auf sowjetisch/polnische Vorstellungen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg“ hervorgegangen war, erwies sich als ungemein erfolgreich.

In ihrem Schlepptau konnten sich sogar zwischen den hochgerüsteten Feindstaaten  erfolgreiche Abrüstungsverhandlungen führen lassen.

Wenn wir heute auf diese Zeit zurückblicken und an den 1. September denken, dann sind uns die Feiern zum 3. Oktober schon vergällt.

Statt des großen Festes in Berlin mit denen, die nicht nur damals dabei gewesen sind und heute von anderen Staatsmännern repräsentiert werden, beschleicht uns die bange Sorge, ob wir den 1. September des nächsten Jahres überhaupt noch erleben.

Wieder befehligen mit markigen Sprüchen deutsche Generale unweit der russischen Grenze internationale Verbände, die nuklear bis unter das Dach aufgefüllt sind.

In der Ukraine werden Truppen, die offen ihre an die Nazi-Zeit erinnernden Feldzeichen führen, gegen die Grenzen eines Landes vorgeschickt, dass genau mit diesen Feldzeichen den großen Schrecken, Tod und Vernichtung identifizieren muss.

Diejenigen, die noch nicht in der NATO sind, werden mit großzügigen Einrichtungen überzogen und in grenzüberschreitende Militärkooperation einbezogen, die sich nur gegen Russland zu richten hat. Krieg ist näher denn je.

Das ist nicht über Nacht gekommen. Die europäische Ohnmacht von Kiew, einen friedlichen Machtübergang in einer überaus turbulenten Zeit sicherzustellen, traf auf einen gesenkten Daumen aus Washington.

Es war nicht nur die Ukraine, deren Möglichkeiten und Hoffnungen mit dem bis heute ungeklärten Massaker auf dem Maidan-Platz auftragsgemäß zerschossen worden sind.

Die Ereignisse trafen Europa ins Mark, weil die totale Konfrontation über den europäischen Ausgleich sich hinweggesetzt hatte.

Jeder in Europa sollte sich heute die Frage stellen, wie weite Teile der eigenen Bevölkerung reagieren würden, wenn man ihnen über Nacht ihre Rechte durch ein Putschregime würde nehmen wollen.

Vor allem, wenn man bei der Gelegenheit auch noch die russische Marinepräsenz mit ihrer Versorgungsfunktion für den Nahen Osten würde beseitigen können.

Heute muss man den Eindruck haben, dass die tatsächlichen Abläufe auf der Krim uns vor dem Krieg bewahrt haben, der heute umso wahrscheinlicher zu werden scheint.

Was ist mit uns eigentlich in all den Jahren passiert, um wieder so gegen ein Land und seine Menschen gestellt zu werden, das noch bei den Winterspielen in Sotchi eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte, wie sehr es ein Ankerplatz für die gemeinsame europäische Kultur ist?

Bei nüchterner Betrachtung müssen wir uns eingestehen, dass das Unvermögen europäischer Außenminister auf dem Maidan-Platz in Kiew der Höhepunkt europäischer Machtlosigkeit gewesen ist, die weit vorher und unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung, dem Ende der Teilung Europas und der Charta von Paris aus dem Herbst 1990 begonnen hatte.

Wir haben das als erste gespürt und man musste in Deutschland den Eindruck haben, dass „Soziale Marktwirtschaft“ und „demokratischer Rechtsstaat“ nur dem Umstand nach den Zweiten Weltkrieg geschuldet worden waren, das eigene Herrschaftsgebiet im geteilten Europa nicht in die Fänge der anderen Seite geraten zu lassen.

Die Folgen der Teilung in ökonomischer Sicht waren gerade erst mal angedacht, als über „shareholder value“ die in Deutschland einst so erfolgreiche und die Gesellschaft ausgleichende Wirtschaftordnung der Sozialen Marktwirtschaft beseitigt werden konnte.

Die heutige Bundeskanzlerin verstieg sich sogar zu der Forderung, die Demokratie marktkompatibel umzugestalten.

Wenn nicht alles täuscht, wird das über die bekannt gewordenen staatsrechtlichen Konsequenzen zum beabsichtigten Freihandelsabkommen TTIP auch gelingen.

Dann kann der demokratische Rechtsstaat, der in Deutschland weitaus tiefere und solidere Wurzeln als die der alliierten Herrschaft auf deutschem Territorium hat, auch gleich mit beerdigt werden.

Was man von der friedensstiftenden Macht des Völkerrechts hält, das hat man mit dem NATO-Jubiläumskrieg 1999 gegen die Bundesrepublik Jugoslawien gezeigt.

Es galt, die neue internationale Rechtsordnung im Interesse der USA reüssieren zu lassen.

Dafür wurde nicht nur die Idee der Helsinki-Konferenz zu Grabe getragen, sondern die gesamte Völkerrechtsordnung, wie sie sich in Europa seit der Zeit des dreißigjährigen Krieges herausgearbeitet hatte.

Ist es nicht weitaus mehr, was sich verändert hat? In diesen Tagen wurde erneut darauf hingewiesen, dass in unserem ach so prosperierenden Land die Mittelschicht wegbricht und die armen Leute noch ärmer werden.

Familien wissen nicht mehr, wie sie über die Runde kommen sollen.

An unseren Schulen wird den Kindern eingebläut, welches Menschenbild sie gefälligst in Zukunft haben sollten.

Die Migrationsentwicklung, die auf eine hilflose deutsche Bundesregierung und eine nicht existierende europäische Haltung stößt, bringt Menschen in unser Land, denen wir durch unsere Politik und die Kriege unserer Verbündeten die Lebensgrundlage genommen haben.

Da diese Menschen vielfach aus den Ländern im Nahen Osten kommen, die als die Wiege unserer Kultur bezeichnet werden können, haben wir ihr und unser Erbe zerstört.

Und jetzt gegen Russland? Sind es die russischen Bodenschätze, die man so unter Kontrolle nehmen will, wie es vor gut zehn Jahren im Fall Yukos schon einmal möglich zu sein schien, obwohl man sich heute wegen Fracking mehr mit den Saudis in den Haaren zu liegen scheint. Oder ist es etwas anderes?

Wenn wir ein nüchternes Bild auf uns selbst werfen, dürfte es etwas anderes sein und das kann man auch in einem Land sagen, aus dem jedes Jahr mehr als eine halbe Million Menschen über den Atlantik reisen.

Hier kommen nur wenige auf die Idee, statt im Silikon Valley einen Job in Samara anzustreben.

Aber Russland steht heute dennoch für etwas, das denjenigen. die unsere Staaten schon fast planiert haben, ein gewaltiger Dorn im Auge zu sein scheint, weil es mehr werden könnte, als Dinge, die morgen schon anders sind: Vaterland, christlicher Glaube und die Werte der Familie.

In dem kriegs- und finanzkrisenbestimmten Westen kommt das alles seit geraumer Zeit völlig unter die Räder.

Unbeschadet der Tatsache, wie die Wirklichkeit in Russland selbst aussieht, muss das in Europa die Menschen nachdenklich machen, denen gerade zum wiederholten Male der Teppich unter den Füßen weggezogen wird.

Was gibt Halt?

Ist es das, warum wir gegen Russland und die Menschen dort wieder in Stellung gebracht werden?

Weil es so gegen die blutigen Träume von der einzigartigen Nation steht?

 

Foto: Hans Sönnke | 1. Sept. 1939 | Bundesarchiv

Ein Kommentar zu “
Der 1. September • „Warum Russland?“ • Eine legitime Frage, die gerade jetzt gestellt werden muss • Demnächst „marktkompatible Demokratie“ statt „Soziale Martwirtschaft“”
  1. Lieber Herr Wimmer,

    ich werde aus ihrem Artikel nicht ganz schlau. Aber egal.

    Ich weiß ja das der Karren tief im Dreck steckt, aber in zwei Punkten muss ich Ihnen widersprechen.

    Wenn Sie schreiben, mit Sotchi hätte Russland unter Beweis gestellt, wie sehr es Ankerplatz für gemeinsame europäische Kultur ist, dann schwillt mir der Kamm.

    Milliarden für Spiele, bei denen selbstverständlich Unternehmen Sonderrechte eingeräumt bekommen.

    Da sprechen Sie von Kultur? Solche Spektaktel sind amerikanischer Scheißdreck, gezogen auf dem Misthaufen von Donald Trump und seinen unendlich vielen Räubern. Ich will keine Spiele, ich will Brot!

    Und kommen Sie mir nicht mit der „Heiligen Allianz“.

    Reaktionäre Scheißkerle, die darüber verhandelt haben, wer sich an wessen Land bereichern kann.

    Zuvor haben die Millionen ins Grab geschickt. Und wofür? Weil man einen der Ihren, zu Recht, einen Kopf kürzer gemacht hat.

    Schade dass das nicht bei allen geklappt hat kann ich da nur sagen.

    Was Europa angeht, da bin ich bei Ihnen.

    Wenn Sie sich das Drama um den Umgang mit den Flüchtlingen anschauen und sehen was getan und was nicht getan wird, dann kann nur gesagt werden: „Europa ist tot“.

    Das war aber immer mehr abzusehen.

    Die EU, das vereinte Europa, wurde für den ungehemmten Warenfluß und die davon profitierenden Unternehmen gemacht, nicht aber für die Menschen und den ungehemmten Fluß der Menschenrechte.

    So wie es aussieht, müssen wir ganz von vorne anfangen.

    Sonst können wir den demokratischen Rechtstaat vergessen und uns in absehbarer Zeit statt des Grundgesetzes eine Gebrauchsanweisung für den Konsumenten auf dem Rathaus abholen und in die Nachttischschublade legen.

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