Mahnwache – 25 Jahre Tschernobyl
Hauptredaktion [ the_time('d.m.Y'); ?> - the_time('H:i'); ?> Uhr]
Mit einer Mahnwache begann die Gedenkwoche „Schöpfungsfall: 25 Jahre Tschernobyl“, des Aktionskreises http://www.tschernobyl-gedenken-aktionen-mg.de/, dem 17 Mitglieder (Organisationen aus Kirche, Politik, Umweltverbänden und Vereinen) angehören.
Diese Mahnwache war keine Veranstaltung mit rein symbolischem Charakter, das war deutlich zu spüren. Diejenigen, die sich hier zu relativ später Stunde am Ostermontag einfanden, wollten gemeinsam und bewusst des schrecklichen Ereignisses vor genau 25 Jahren gedenken.
Schon vor 23.00 Uhr fanden sich die ersten Teilnehmer an dem Brunnen am Alten Markt ein und erste Grablichter flackerten auf dem Brunnenrand. Nach und nach sammelten sich mindestens 60 Teilnehmer und mit ihnen nahm die Zahl der Kerzen gleichfalls zu.
23.23 Uhr (26.04.1986: 2.23 Uhr Ortszeit). Die Totenglocken von Münster, Citykirche und Christuskirche beginnen zu läuten.
Exakt um diese Uhrzeit explodierte der Atomreaktor in Tschernobyl.
„Es muss ein Tag wie heute gewesen sein“, beginnt Propst Dr. Albert Damblon, Koordinator des Aktionskreises, seine Ansprache. Er zitiert aus dem Buch „Störfall, Nachrichten eines Tages“ der Schriftstellerin Christa Wolf, in dem diese den Schock von Tschernobyl reflektiert. Damals noch in der DDR lebend.
Es war, endlich, ein sonniger Frühlingstag nach einem langen, zu langen Winter.
„Man hat sehen können“, so erinnert sich die Autorin, „dies würde einer der schönsten Tage des Jahres.“ Zitiert wird dies in einem Spiegel-Artikel 1987.
Dr. Damblon hat einen Text aus dem Buch gewählt, der damals wie heute nicht besser hätte passen können. Er handelt von Kirschblüten, und führt uns vor Augen, wie stark unsere Sprache mit unserem täglichen Erleben verbunden ist.
Damals, 1986, war es ein wunderschöner, sehr warmer Frühlingstag. Die Knospen der Kirschblüten „explodierten“ regelrecht. Diese, wie auch das Grün. Christa Wolf erzählt von der Frühlingshitze nach dem endlos langen Winter und den Warnungen, die sich erst viel später herumsprechen, die Früchte, deren Blüte in jene Tage fiel, zu essen …
Sie erzählt 1987 davon, wie sie es vermieden haben wird zu denken, dass die Kirschbäume „explodiert“ sind, wie sie es noch ein Jahr zuvor ohne weiteres denken und auch sagen konnte.
Diesen Gedankengang nimmt Dr. Damblon in seiner Ansprache auf und erinnert daran, dass auch in diesem Frühjahr, 25 Jahre nach Tschernobyl und nur wenige Wochen nach Fukushima, Blüten auf keinen Fall mehr „explodieren“ dürfen.
„Die Ereignisse haben die Sprache verändert. Was lange gesagt werden durfte, fällt plötzlich unter ein Verbot. Die Sprache ist nicht so unschuldig, wie sie sich manchmal gibt. Für die Zukunft sind wir auf der Suche nach anderen Worten, in der Hoffnung, dass es uns eines Tages die Sprache nicht verschlägt.“
Er führt weiter aus: „Es ist wichtig, in Zukunft neu zu sprechen. Es ist wichtig, in Zukunft Katastrophen wie Tschernobyl zu verhindern.“
Deshalb seien Ostermärsche und Karsamstagsdemonstrationen sinnvoll, denn sie haben die Zukunft zum Thema, ohne eine Energieform, die nachfolgenden Generationen tödlichen Müll hinterlässt.
Dr. Damblon erinnert daran, dass es nicht nur wichtig ist, in die Zukunft zu schauen, sondern genauso wichtig in die Vergangenheit.
„Und an dem Weg zurück stehen Menschen, die ihr Leben unwiederbringlich verloren haben. Es verbietet sich, die Opfer der Vergangenheit zu vergessen oder zu übersehen.“
„Nach seinem christlichen Menschenbild,“ so Dr. Damblon, „sei es unmenschlich, die Toten aus dem Blick zu verlieren. Es sei geradezu pervers, Opfer zu vergessen.“
„Wir Deutsche haben es mit Auschwitz versucht, es wird uns, Gott sei Dank, nie gelingen. Manche versuchen es mit Tschernobyl, aber Fukushima hat ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht.“
Dr. Damblon mahnt, die Opfer nicht zu vergessen.
„Die Kernenergie werde zur physikalischen, technischen oder wirtschaftlichen Frage. Das Restrisiko ist eine mathematische. Ausgeblendet wird der Tod von Menschen. (… ) Verschwinden muss ein Tod, der einmal losgelassen, die Menschen Jahrhunderte, Jahrtausende verfolgt.“
Er führte weiter aus, dass es ihm, 25 Jahre nach Tschernobyl, nicht gelungen sei, die genaue Zahl der Opfer herauszufinden. Keiner wisse bei unserem heutigen Gedenken, wie viele Opfer in dieses einzuschließen sind. Bis zum Jahr 2006 rechnet die Gesellschaft für Strahlenschutz mit 50.000 bis 100.000 Menschen, die an den Folgen Tschernobyls starben.
Er zitiert nochmals aus dem Buch Christa Wolfs und endet mit dem Satz: „26. April 1986, ein Kalenderblatt, ein Datum, an dem das Sterben begann.“
Ein Teilnehmer meinte zu der Rede Herrn Dr. Damblons, dass es diesem sehr gut gelungen sei, den Brückenschlag von einer Gedenkveranstaltung auch zu einer kritischen Betrachtung der von Kapitalinteressen gesteuerten Welt zu schlagen.
Einen gekonnten Abschlusspunkt setzte der Musiker Jürgen Löscher.
Er ist seit Jahren im Bereich der freien Improvisation aktiv. Wobei „frei“ bedeutet, dass diese Musik nicht einem bestimmten Stil zugeordnet ist, wie z.B. Jazz, Barock, Folk etc.
Herr Löscher hatte die Idee zu seiner Improvisation aus einer Vorbesprechung. Es war vorgeschlagen worden um 23.23 Sirenen heulen zu lassen. Da davon auszugehen war, dass dies nicht genehmigt werden würde, hatte man sich alternativ für das Läuten der Glocken entschieden.
Die Idee des „Sirenengeheuls“ aufnehmend wählte Herr Löscher das Sopran-Saxophon, das sehr hoch klingt und doch recht laut gespielt werden kann.
Damit versuchte er eine Art „Sirenengeheul“, das aber auch als ein Aufschrei empfunden werden konnte. Er kombinierte dies mit einer eher elegischen, ruhigen und traurigen Melodie.
Da Herr Löscher das exakt richtige Fingerspitzengefühl für die Länge seiner Improvisation hatte, war sein Spiel genau passend zu der Stimmung des Alten Marktes, und ein sehr gelungenes, emotionales Ende mit der diese denkwürdige Mahnwache ausklang.
Die gesamte Ansprache können Interessierte hier lesen.
Herrn Probst Dr. Albert Damblon danken wir vielmals für die freundliche Überlassung seines Manuskriptes.
Weitere Bilder der Mahnwache: